groteske Fantasienamen. Franz vertrat die These, dass jeder sich selbst stets neu erfinden und dafür auch einen entsprechenden Namen verwenden sollte. Gery war froh, dass er zumindest seinen Vornamen hatte behalten dürfen. Obwohl «Gery» nur sein Spitzname war. Eigentlich hieß er Gerald, Gerald Gebhardt, aber das wusste hier keiner. Denn die Zeiten, in denen er mit «Gerald» angesprochen worden war, hatte er hinter sich gelassen.
Wie Debbie ihn nannte, spielte für Gery ohnehin keine Rolle. Hauptsache, sie redete überhaupt mit ihm. Denn sie hatte nicht nur ihren Spitznamen und die Haarfärbetechnik von der Blondie-Sängerin Debbie Harry übernommen, sondern auch deren unverschämt gutes Aussehen.
Der Blondie-Song war beim Refrain angekommen: «I am always touched by your presence, dear.» Siggi reichte Debbie die Tasse. Der Kaffee war derart mit Milch verdünnt, dass er beinahe so blond wie Debbie aussah.
Sie bedankte sich kurz und fragte Gery: «Weißt du, ob Franz heute in der ‹Gefahrbar› ist?»
«Ich glaube, erst morgen wieder.» Wieso erkundigten sich alle bei ihm nach irgendwelchen Leuten? Sah er aus wie die Auskunft? «Warum fragst du?»
«Ich wollte mit ihm noch kurz über einen Text sprechen.»
Das könnte sie genauso gut mit mir, dachte sich Gery, schwieg aber.
Debbie trank einen Schluck von ihrem Kaffee und schenkte Gery einem filmreifen Augenaufschlag. «Vielleicht hast du ja Zeit.»
Nicht erste Wahl, aber was soll’s, dachte Gery. «Ja, natürlich. Gerne», antwortete er.
Kriminalkommissar Peter Kappe betrat den Hinterhof in der Kreuzberger Adalbertstraße. Hier sah es aus, als habe jemand einen illegalen Schrottplatz eingerichtet oder eine Autowerkstatt unter freiem Himmel. Zwischen ein paar Autowracks stand ein alter Mercedes mit platten Reifen und geöffneter Motorhaube. Neben dem Wagen schien eine Werkzeugkiste auf den Mechaniker zu warten. Doch der Hof war, abgesehen von Kappe und seinem Kollegen Kriminalmeister Wolf Landsberger, menschenleer.
Hinter den Autos bot ein einstöckiges Gebäude ein Bild des Jammers. Der Putz bröckelte von der Hauswand, die winzigen Fenster standen offen. Ihre Rahmen waren derart verzogen, dass fingerdicke Spalten zwischen Holz und Mauerwerk klafften.
«Sieht so aus wie eine alte Werkstatt», stellte Landsberger fest.
«Möglich», brummte Kappe. Er betrat das Haus. Im Innern baumelte eine nackte Glühlampe an einem Kabel und tauchte einen Raum in Zwielicht. Es stank nach einer Mischung aus Pissoir, Komposthaufen und Eckkneipe.
Kappe hielt sich die Nase zu und blickte sich um. An den Wänden hingen vergilbte Poster von Rockbands, und in der Mitte des Raums standen ein Musikmischpult von der Größe einer Rittertafel sowie zwei riesige Lautsprecherboxen auf einem Tisch. Das Pult wirkte in dieser Muchtbude fremd, denn es glänzte wie ein Lackschuh. Auf einem Beistelltisch thronten mehrere Bandmaschinen, Drähte und Kabel quollen aus Kästen mit Leuchtdioden und Reglern. Daneben häuften sich Zigarettenkippen in einem Aschenbecher. An der hinteren Wand gammelte ein Spiegel vor sich hin, über und über mit Schmutzschlieren bedeckt.
Mehrere Beamte von der Kriminaltechnik drängten sich in dem kleinen Raum.
«Hallo, Kappe! Da biste ja endlich», rief ihm Dr. Doreen Niedergesäß zu. Die Gerichtsmedizinerin kniete vor einem weißen Laken, unter dem offenbar der Grund ihrer aller Anwesenheit lag.
«Tag auch», murmelte Kappe, als er neben sie trat.
«Willst sicha wissen, wen wa hier ham?»
«Wäre schön», erwiderte Kappe.
«Een Nachbar hat den Mann als Reinhard Buddewitz identifiziert. ’n Tontechnika. Is vielleicht besser für dein Magen, wenn du dir später die Fotos ankiekst. Oda willste die Maden bei da Arbeit sehen?»
Kappe verdrehte die Augen. «Lass mal. Ich warte gern.»
«Der junge Mann hat die Hütte jemietet und hier wohl ’n Tonstudio betrieben. Det hier sollte wahrscheinlich de Regie sein», fuhr Doreen Niedergesäß fort. Sie zeigte mit der Hand im Raum herum. Dann wies sie auf die hintere Wand mit dem Spiegel. «Da hinten sind noch ’n Uffnahmeraum und so wat wie ’n Wohnzimma.»
Nun erkannte Kappe, dass es sich bei dem dreckigen Spiegel am anderen Ende des Raums tatsächlich um eine Glasscheibe handelte. Die Schmutzschlieren verhinderten die Sicht in das dahinter liegende Zimmer.
«Stinkt’s dahinten genauso wie hier?», erkundigte sich Kappe.
«Na ja. Ick vermute, da wurde jenauso ville Bier jetrunken und vaschüttet und alle möglichen Rauchwaren konsumiert. Aba ’ne Leiche liegt nur hier.» Doreen Niedergesäß zögerte einen Moment, bevor sie ergänzte: «Und zwar seit unjefähr drei, vier Tagen, würde ick schätzn.»
«Hast du schon eine Vermutung zur Todesursache? Gibt es Hinweise auf Fremdeinwirkung?»
«Uffn erstn Blick würd ick sagen, Herzstillstand inner Folge von ’nem Stromschlag. Det kann zum Beispiel durch ’n defektet technischet Jerät passiert sein.» Dr. Niedergesäß zeigte auf den Tisch mit den Bandmaschinen, Kästen und Drähten. «Näheret wie imma im Bericht.»
Kappe wusste, dass er von der Gerichtsmedizinerin im Moment nicht mehr erfahren würde. Daher fragte er in den Raum: «Wer hat den armen Kerl denn gefunden?»
Ein Beamter der Spurensicherung zeigte auf die verdreckte Scheibe. «Der erwähnte Nachbar. Er sitzt dahinten und wartet auf Sie.»
«Na dann.» Kappe gab Landsberger ein Zeichen und bahnte sich seinen Weg vorbei an den Beamten.
Im Raum hinter der Scheibe standen Berge von Kisten, die Wände hingen voller Eierpappen. Eine offene Tür führte in eine Art Schlafzimmer, das an eine Studentenbude erinnerte. Eine Matratze lag auf dem Boden, daneben stand auf den nackten Dielen ein Fernseher, der seine beste Zeit in den Sechzigerjahren gehabt hatte. In der Ecke fand sich ein Tisch mit zwei Holzstühlen. Auf dem einen saß ein Schlacks mit langen Haaren und Koteletten, sein Leinenhemd war mit Ölflecken beschmiert und so weit aufgeknöpft, dass seine Brustbehaarung zu sehen war.
Neben dem Kerl stand ein Beamter in Uniform. Der Polizist zog einen Schemel unter dem Tisch hervor. «Das ist Herr Schneider. Er hat uns gerufen.»
«Danke», sagte Kappe. Er setzte sich auf den Stuhl neben Schneider. Der Beamte nickte kurz und verließ das Zimmer. Landsberger schob den Schemel zurecht und nahm Platz. Mit seinem Maßanzug wirkte Kappes Kollege, als wäre er mit Tricktechnik in diese Hinterhofbuden-Szenerie montiert worden.
«Guten Tag, Herr Schneider. Ich bin Kriminalkommissar Kappe, und mein Kollege heißt Landsberger», sagte Kappe. Er sah, wie Landsberger ein Notizbuch aus dem Jackett zog, und ließ sein eigenes deshalb stecken. «Wann haben Sie die Leiche entdeckt?»
«Na ja, eigentlich hab ick nur bei da Polizei anjerufen, weil et so jestunken hat.»
«Heute Morgen?»
«Ja.» Schneider schaute auf seine zerkratzte Armbanduhr. «Ach du meine Güte, ick sitze schon seit üba andathalb Stunden hier!»
«Nun, wenn Sie einfach auf unsere Fragen antworten, dauert es vielleicht nicht mehr allzu lange», sagte Landsberger. Er warf einen Blick auf seine eigene Uhr, die allerdings ungefähr doppelt so teuer wie Schneiders gesamte Garderobe aussah. «Sie haben den Geruch demnach gegen zehn Uhr festgestellt.»
«Ja», antwortete Schneider. Er klang, als wüsste er nicht, ob er eingeschnappt oder eingeschüchtert sein sollte.
«Wo?», fragte Kappe.
«Uffm Hof.»
«Was haben Sie dort gemacht?»
«Ick hab det Auto repariert.»
«Den Mercedes?»
«Ja.»
Landsberger sah von seinem Notizbuch auf. «Der Wagen macht nicht den Eindruck, als würden Sie erst seit heute Morgen an ihm herumwerkeln.»
«Die