Thomas Christen

Im Schatten der Hundstage


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„Haltet einfach einmal das Maul. Wer von uns würde denn aufstehen und sagen wollen, dass irgendeiner neben ihm kein Wichser wäre. Also hört mir einfach zu! Die Zeit ist nicht mehr weit. Eine andere Zeit. Ohne schleimigen Fraß. Ohne bunte Pillen. Ohne glasklare Gläser voller glasklarem Gift. Ohne verwanzte Betten. Ohne eiskaltes Wasser. Ohne stinkende Scheißhäuser. Ohne Schreie. Ohne Schmerzen. Ohne Folterzangen. Ohne Albträume, ohne … ohne …“ Er rang nach Worten, wedelte theatralisch mit den Armen und stierte schweigend in die erste Reihe.

      „Denn ich – euer Freund und Wegweiser, euer Vater, euer … Gott! Ich wache über euch. Ich habe es immer getan und werde es immer tun. Verzagt nicht. Fürchtet euch nicht. Weinet nicht. Glaubt nur. Glaubt an das, was ich sage. Glaubt an mich.

      Ich sage euch was, Higgins, der alte Bücherfresser und Klugscheißer hat mir einmal etwas erzählt. Ich habe nicht mehr die geringste Ahnung was es war, das der alte Arsch mir ins Ohr gequatscht hat. Aber es klang gut. Es klang verdammt gut. Groß. Der Mann hieß Caligula. Higgins hat niemals einen Namen vergessen. In seinem ganzen Leben hat Higgins keinen Namen vergessen. Ihr wisst das doch selber! Also glaubt mir gefälligst, ihr Schwachköpfe, was ich euch hier erzähle. Caligula hieß der Mann. Und er war Kaiser. Verfluchter Kaiser im verfluchten, steinalten Rom.“

      Er schlug sich mehrmals mit der flachen Hand auf die Brust und begann zu husten.

      „Scheiß drauf, was er gesagt hat. Als Higgins es mir erzählt hat, klang es großartig. Ahh … ich wusste, dass ich es nicht vergessen würde. Niemals auch nur einen Tag: Trefft sie so, dass sie das Sterben fühlen!

      Das hat Higgins gesagt. Oder dieser Wichser Caligula. Ist ja auch völlig egal. Wir werden sie treffen … Wir werden sie – nein, nein, wir werden Güte walten lassen, Güte und Nachsicht, denn wir sind aus Fleisch und Blut. Wir werden gütig und nachsichtig sein. Sie werden bereuen müssen, tief bereuen – und wir werden Watson den Schwanz abschneiden. Verdammt noch mal, das werden wir! Jawohl! Denn ich wache über euch. Seit jeher und in alle Ewigkeit.“

      Er lehnte am Fenster und starrte in den herandräuenden Morgen. Gewitterwolken hingen über den verwilderten Beeten neben dem riesigen Wasserbehälter. Er hatte fast vierundzwanzig Stunden durchgeschlafen und fühlte sich noch immer gerädert und hundsmiserabel. Auf der Fensterbank lagen zwei Messer, die er sich aus der Küche mitgenommen hatte. Jetzt wanderte sein Blick auf ihre Spitzen und versuchte zu ergründen, ob sie sich zu ihm hingedreht hatten oder nicht. Aber sie lagen dort so, wie er sie dort abgelegt hatte. Stumm und blank.

      Das Geräusch war ein fernes Rattern, ein dumpfes Grollen. Wie das erste kaum wahrnehmbare Heranrollen eines Bebens. Die beiden Planierraupen bogen um die Ecke des Schornsteins, kamen genau den Weg entlang, den der alte Mann immer mit seinem Anhänger herauffuhr. Der Alte wäre abgebogen, um an das entfernte Ende der Gebäudeflucht zu fahren. Um Kisten abzuladen. Geschenke abzugeben.

      Die Raupen nahmen den Weg zum Haupteingang und blieben dann einfach stehen, als wüssten sie nicht weiter. Zwei Männer stiegen aus und setzten sich auf die Zähne einer der halbhoch gezogenen Schaufeln.

      Er zog die Augenbrauen hoch und rückte einen Schritt vom Fenster weg.

      Meine Lieben, meine Freunde – wir haben neue Besucher! Seht ihr sie? Seht ihr, wie sie ihre Stullen fressen, weil sie Angst haben, hier gäbe es nichts Anständiges zwischen die Zähne. Kommt her, ihre verblödeten Penner. Schaut sie euch an. Wenn sie wüssten, was es hier alles zwischen die Zähne gibt! Aber sagt mir, müssen sie Angst haben? Haben diese Männer irgendetwas zu befürchten? Nein, haben sie nicht! Wir werden sie empfangen wie Menschen. Denn das gehört sich so. Wir werden sie begrüßen, ihnen zeigen, dass sie willkommen sind. Ihnen den Tisch decken und die Hände reichen. Ihnen ihre Angst nehmen und sie nach ihren Träumen fragen.

      Haben wir es nicht immer so gehalten? Nun kommt schon, ihr dämlichen Schweiger und Nichtsnutze. Watson, du Schwanzlutscher, sieh aus dem Fenster! Ist etwas dabei? Nein – nein – schmink es dir einfach ab! Ich werde dafür sorgen, dass diese neuen Gäste sich bei uns wohlfühlen. Es ist unsere Pflicht! Pflicht! Verdammte Pflicht!

      Es war nie anders. Darf nie anders werden.

      Denn ich, Thomas Randolf Kirkpatrick – wache über alles. Habt ihr das endlich verstanden, ihr Wichser? …

       Anmerkung:

       Im Jahr 1928 kaufte der Staat New York auf Long Island über vierhundert Hektar Land, um die größte Nervenheilanstalt der Welt zu bauen. Mitte der fünfziger Jahre lebten in den Pilgrim State Hospitals über vierzehntausend Patienten. In der Geschichte der Vereinigten Staaten spielten solch gewaltigen Heilanstalten schon immer eine große Rolle. Es waren riesige, nicht selten in viktorianischem Stil gehaltene, prunkvolle Gebäudekomplexe, die, miteinander verbunden, Ausmaße von über einem Kilometer erreichen konnten und die, meist außerhalb der Stadtgebiete liegend, zu den ranghöchsten Statussymbolen eines jeden Staates gehörten. Autarke, eigenständige Ansiedlungen mit eigenen Kraftwerken, Wasseraufbereitungsanlagen, landwirtschaftlichen Betrieben und Handwerksstätten.

       Galt das Augenmerk in den ersten Jahrzehnten nahezu ausschließlich den Patienten, die in einer „für sie gestalteten Welt“ lernen sollten mit ihrer Krankheit zu leben (oftmals über viele Jahre bis zum Tod), so führten zunehmender Mangel an finanziellen Mitteln, an Fachpersonal, vor allem aber der medizinische Fortschritt, sich ändernde Behandlungsideologien und die Entwicklung von Psychopharmaka dazu, dass diese „geschlossenen Institutionen“ zu reinen und oftmals überfüllten Verwahranstalten verkamen.

       Hinter nach außen weiterhin prachtvoll wirkenden Fassaden lebten Gewalt, Vernachlässigung und Gleichgültigkeit, und die Mittel der Wahl waren Sedierung und Verschluss (auch in Deutschland wurden beispielsweise erst in den siebziger Jahren Lobotomien eingestellt).

       Heute stehen die meisten dieser Heilanstalten leer, werden, soweit das überhaupt möglich ist ganz oder teilweise in anderer Funktion genutzt, vermietet oder aber abgerissen. Es war sicherlich nicht die Regel, aber es ist vorgekommen, dass Patienten entlassen wurden und sich Jahre später, nachdem sie in der „realen Welt“ straffällig geworden waren, in derselben Einrichtung wiederfanden, die mittlerweile zu einer Strafanstalt umgebaut war.

       Das Pilgrim State Hospital in seiner ursprünglichen Form existiert heute nicht mehr. Das Land wurde im Jahr 2002 für einundzwanzig Millionen Dollar an einen Geschäftsmann verkauft. Viele der ehemaligen Gebäude sind abgerissen. Andere sehen ihrem Abriss mit zugemauerten Fenstern entgegen.

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