Michael Schlinck

Die Schuhleiche


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ist. Beinahe hätte ich die Abfahrt Landau Süd verpasst. Hier verlasse ich die Autobahn 65, die Ludwigshafen oder besser gesagt die Metropolregion Rhein-Neckar in einem Bogen durch die Südpfalz mit dem badischen Karlsruhe verbindet. Mein Weg führt mich über die B38, vorbei am Segelflugplatz auf dem Ebenberg, in die Stadt Landau. Noch vor dem Bahnübergang in Höhe des Vinzentiuskrankenhauses biege ich links ab, um über die L509 Landau in Richtung Wollmesheim zu verlassen.

      Beim Ortsschild, aufgestellt in Höhe einer Großbäckerei, kann ich vor mir das Panorama des Wasgaus sehen. Eigentlich ein unscheinbares Mittelgebirge im Südwesten Deutschlands, aber durch seine Ruinen und Felslandschaften unverwechselbar schön. Auch die Madenburg ist schon deutlich zu sehen. Der Anblick der auf 458 Meter Höhe liegenden Burgruine dient mir stets als Orientierungspunkt, da am Fuße der Burg die B48 zwischen den Bergen verschwindet. Genau da muss ich hin. Dort liegt das verschlafene Dörfchen Waldrohrbach, in dem ich mit meiner Familie lebe.

      Fünfzehn Minuten nachdem wir die Stadtgrenzen von Landau verlassen haben, parke ich das Wohnmobil mit Maiks Rennanhänger im Hof unseres alten Bauernhäuschens. Kaum habe ich den Motor abgestellt, sehe ich Natalie, meine Frau, aufgeregt aus der Haustür kommen. „Was ist passiert? Warum seid ihr schon zurück? Ist was mit Maik?“ Bei diesen Worten meiner Frau fällt mir ein, dass ich vor lauter Gedanken an Gusti und den auf mich zukommenden Fall total vergessen habe, sie über den Rennverlauf zu informieren. Klar, dass unsere viel zu frühe Ankunft sie in Angst und Schrecken versetzt.

      „Mach dir keine Gedanken, Natsch“, versuche ich sie zu beruhigen. „Maik sitzt im Wohnmobil und wird dir alles vom Rennen erzählen. Nur ich muss leider gleich wieder los. Es gibt eine Leiche.“

      Während ich in meinen Dienstwagen steige, sehe ich, dass meine Frau immer noch mit offenem Mund auf der gleichen Stelle steht. In der Gewissheit, dass Maik sie schon aufklären wird, fahre ich hastig vom Hof. Statt meiner Frau ist in meinem Rückspiegel nur noch eine Staubwolke zu erkennen.

      Kurz darauf biege ich in die Industriestraße in Hauenstein ein. Jetzt heißt es, Geduld zu bewahren. Überall sind Fahrzeuge mit den unterschiedlichsten Kennzeichen bemüht, einen Parkplatz zu finden. Auf den Gehsteigen sind Menschenmassen mit Tüten bepackt unterwegs. Ja, die Industriestraße ist unter dem Namen „Schuhmeile“ weit über die Grenzen Hauensteins bekannt. Ein Gesetz, bei dem es um in alter Tradition hergestellte Ware geht, erlaubt den ansässigen Händlern, ihre Schuhe auch sonntags zu verkaufen.

      Nachdem ich mich durch den Trubel im vorderen Teil der Straße gekämpft habe, kann ich im hinteren Bereich die Einsatzfahrzeuge der Schutzpolizei erkennen. Einen Parkplatz zu suchen, hab ich nun echt keine Lust, also stell ich meinen Dienstwagen direkt am Absperrband vor dem Haupteingang ab. Schon kommt ein uniformierter Schutzpolizist energisch auf mich zu. Mich wundert sehr, dass mir der Kollege in keinster Weise bekannt vorkommt. „Hier ist und bleibt heute geschlossen“, bekomm ich zu hören. „Nehmen Sie Ihre Schleuder und fahren Sie weiter.“

      Schleuder? Hat der Kollege eben meine Dienstwagen wirklich Schleuder genannt? Ich meine, dass ich lange für meinen Mini gekämpft habe. Er ist ja auch kein gewöhnlicher Mini. Es handelt sich um das limitierte GP Modell, mit 218 PS bei 1.235 Kilogramm Leergewicht, das ist doch eher ein Wolf im Schafspelz als eine Schleuder. Was ich allerdings dem Schutzpolizisten zugutehalten muss, ist, dass in unserer technischen Abteilung mein Wagen auf schäbig getrimmt wurde. Zudem hat er noch ein paar Raffinessen eingebaut bekommen. So ist er einfach wie geschaffen für verdeckte Ermittlungen.

      Ich halte, um mir unnötige Erklärungen zu sparen, einfach meinen Dienstausweis in die Luft.

      „Entschuldigen Sie, Hauptkommissar Schlempert. Ich wusste nicht …“

      „Schon gut.“ Ich habe keine Lust, mir das peinliche Gestottere weiter anzuhören. Allerdings ist mir schon aufgefallen, dass er schnell lesen kann. „Sind Sie neu bei der Schutzpolizei? Sie sind mir nicht bekannt.“ Nun hat doch meine Neugier gesiegt.

      „Nein“, bekomme ich postwendend Auskunft, „ich bin schon seit achtzehn Jahren im Dahner Revier tätig.“

      Da habe ich meine Antwort. Klar, der Kollege kommt nicht aus Landau. In Dahn gibt es ja auch noch, ähnlich wie in Annweiler, eine kleine Polizeiinspektion, die nur tagsüber besetzt ist.

      Endlich kann ich das Gebäude betreten, in dessen großzügigem Eingangsbereich sich zwei hochlehnige Sofas befinden, die als Wartebereich dienen. In einem sitzt mein Freund Gusti. Wie ein Häufchen Elend sieht er aus. In sich zusammengesunken und kreidebleich.

      „Mensch, Dieter! Gott sei dank, dass du da bist.“ Na, das ist doch mal eine Begrüßung. „Ich weiß gar nicht, was ich tun soll. Da will man auf ehrlichem Wege Schuhe verkaufen und dann hab ich ne Leiche im Lager.“

      „Hallo, Gusti. Beruhige dich erst einmal. Jetzt bin ich ja da. Hol dir einen Kaffee und ich spreche derzeit mit den Kollegen. Okay?“

      „Nichts ist okay. Du weißt doch, dass ich die topmoderne Maschine nicht bedienen kann und Personal hab ich ja am Wochenende keins da, somit kann ich die Aufgabe auch nicht delegieren.“ So viel zu den armen reichen Leuten. „Ach ja, deinen Kollegen hab ich mein Büro zur Verfügung gestellt.“

      Da das Büro von Gusti gleich das erste auf der linken Seite ist, brauch ich mich quasi nur auf dem Absatz umzudrehen und die Tür zu öffnen, um bei meinen Kollegen Timo und Laura zu sein. An dem großen Besprechungstisch im vorderen Bereich des großzügigen Büros haben sie ihre Unterlagen ausgebreitet, die bis dato hauptsächlich aus Notizen und ein paar Lieferscheinen bestehen.

      „Hallo, ihr zwei“, begrüße ich sie kurz. „Bringt ihr mich bitte mit ein paar Worten auf den aktuellen Stand?“

      Laura Schmitt, die wir auf der Dienststelle immer Lara nennen, tritt auf mich zu. Lara nennen wir sie deshalb, weil sie eigentlich die zu Fleisch gewordene Lara Croft aus dem bekannten Computerspiel Tomb Raider ist. Genau so kommt sie jetzt geradewegs auf mich zu. Die khakifarbenen Hosen mit dem superbreiten Gürtel, an dem sie ihre überdimensionale Gürteltasche trägt, betonen ihre athletische Figur noch zusätzlich. Unter ihrer offen stehenden Jacke kann man deutlich das Halfter ihrer Dienstwaffe erkennen und ihre blonden, glatten und halblangen Haare, die sie wie immer zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, lassen sie sportlich und zugleich streng erscheinen.

      „Viel haben wir noch nicht. Der Wachmann, der heute Vormittag seine Runde drehte, hat die Leiche entdeckt und den Lagerleiter und uns verständigt. Die Leiche ist männlich und etwa Anfang fünfzig.“

      „Schon identifiziert?“, will ich wissen.

      „Nein, noch nicht. Würgemale am Hals deuten auf ein Kapitalverbrechen. Gefunden wurde er in einer Kiste zwischen Schuhkartons, in Folie verpackt auf einer Europalette.“

      Da Lara nun ihre Ausführungen beendet hat, beginne ich mit meinen Ermittlungen. „Was sagt der Arzt?“

      Nun wird Timo aktiv: „Wie gesagt, Tod durch Ersticken ist naheliegend, was die Hämatome im Halsbereich bestätigen. Die fortgeschrittene Leichenstarre deutet darauf hin, dass unser Opfer schon vor mehr als 36 Stunden von uns gegangen ist. Alles Weitere will er bei der Obduktion feststellen.“

      „Okay, und was sagen die Jungs der Spusi?“ Spusi ist unser gängiges Kosewort für die Spurensicherung.

      „Also, ein gewaltsames Eindringen in das Lager konnte nicht festgestellt werden. Auch Fingerabdrücke konnten sie nirgends nachweisen.“

      „Habt ihr die Anwesenden schon vernommen?“

      „Nein, Dieter, damit wollten wir auf dich warten.“

      „Okay, dann lassen wir die Leute nicht zu lange warten. Ich werde die Befragung durchführen. Timo, wenn du das Protokoll führst, kann Laura aus der zweiten Reihe das Verhalten der Befragten beobachten.“ Beide nicken zustimmend. Zufrieden mit der Arbeitsteilung frage ich, um die beiden mit einzubeziehen: „Mit wem fangen wir an?“ Einstimmig sind wir der Meinung, zuerst mit dem Wachmann zu sprechen, der die Leiche gefunden hat.

      Nachdem