Markus Saxer

Schicksalspartitur


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erhob er sich, nickte dem Kellner zu und ging nach Hause. Beim Verlassen des Cafés fiel ihm plötzlich ein, dass Javor nach jenem Abend, als er von Eva »behandelt« worden war, nie wieder bei ihnen geklingelt hatte.

      Ganz in der Nähe seines Wohnblocks parkte ein Streifenwagen der Polizei. Erschrocken blieb Matthias stehen, als er ihn erblickte, und er sah sich schon im Treppenhaus von uniformierten Beamten in Empfang nehmen, die sodann seine Wohnung durchsuchen und das geraubte Lösegeld entdecken würden, wonach sie ihn verhafteten. Schuldgefühle kamen hoch, Reue, die Angst, erwischt zu werden.

      Da vernahm er eine zeternde Männerstimme, und im Lichtkreis einer mit Efeu umrankten Laterne tauchten gleich darauf zwei Polizisten mit Gardemaßen auf, die einen gedrungenen Kerl mit wirrem Haar in abgewetzter Kleidung abführten. Einen kurzen Moment lang waren die drei Gesichter vom kühlen weißen Laternenlicht scharf umrissen. »Das waren doch bloß ein paar harmlose Ohrfeigen, weil meine Alte hysterisch geworden ist!«, schrie der Kerl.

      »Hören Sie auf herumzuschreien, sonst kassieren Sie eine Geldbuße wegen nächtlicher Ruhestörung!«, herrschte einer der Ordnungshüter den Delinquenten an, öffnete die Hintertür des Streifenwagens, drückte ihm den Kopf nach unten und schob ihn unsanft auf die Rückbank.

      Matthias bemerkte die Handschellen auf dessen Rücken. Betont gemessenen Schrittes begab er sich zu seinem Wohnblock und schloss die Haustür auf. Zu seiner Erleichterung hörte er den Polizeiwagen abfahren.

       Noch mal gut gegangen …

      Er stieg die abgetretenen steinernen Treppenstufen empor. Im Wohnzimmer ließ ihn sein schlechtes Gewissen das Tablet aktivieren und in der Rubrik »News« nach Nicole Steiner und ihrem Vater googeln, aber er fand nichts, was er nicht schon in der Tagesschau erfahren hatte. Als er weitersuchte, konnte er jedoch die Privatadresse der Familie Steiner ausfindig machen.

      Clara Sachs hatte ihm eine E-Mail geschickt, sie war seine Jugendliebe, mit der er sich ab und zu in Lörrach traf. Sie unterhielten eine lockere Beziehung, aber es war nichts Ernstes, und dann und wann gönnten sie sich ein mediterranes Gericht im Peja, ihrem Stammlokal am Chesterplatz mit dem jungen, stets gut gelaunten Servicepersonal, und anschließend gerne noch ein gemeinsames Schäferstündchen in einem preiswerten Hotelzimmer.

      Clara, ein Vollweib von einer Brünetten, hatte in Magdeburg und Jena Literaturwissenschaft studiert und über den genialen polnischen Philosophen, Essayisten und SF-Autor Stanislaw Lem promoviert, dessen vielschichtiges philosophisches Schlüsselwerk »Solaris« sie geradezu kultisch verehrte, ja anbetete. Seit Langem arbeitete sie selbst an einem Science-Fiction-Roman mit dem Arbeitstitel »2050 – Ensoras Chroniken«, der in ihr brenne und lodere, wie sie es ausdrückte: Der junge Hobbyastronom Sebastian Weiss beobachtet auf einem leeren Feld mit seinem Teleskop den Nachthimmel, als sich plötzlich mit einem metallischen Sirren in etwa hundert Metern Entfernung ein blinkendes, zigarrenförmiges Objekt materialisiert, dem eine schlanke Gestalt in einem silbrigen hautengen Anzug entsteigt. Als diese den Helm abnimmt und ihr dunkles Haar ausschüttelt, nähert sich ihr Sebastian vorsichtig. Die beiden kommen miteinander ins Gespräch. Die Frau im glänzenden Habitus heißt Ensora und ist mit ihrem Zeitreisemobil aus ihrer Zukunft angereist – einer finsteren dystopischen Gesellschaft, deren Herrscher sie wegen Meuterei und Hochverrats festgenommen und zum Tode verurteilt hatten. Ihr Geliebter und Kampfgefährte konnte sie im letzten Moment vor der Hinrichtung bewahren und sie in eine Zeitmaschine setzen, mit der sie ins Jahr 2020 flüchtete – das Jahr, in dem sich machthungrige, skrupellose Politiker und hohe Militärs verbündeten, um gemeinsam den Grundstein zu jener Dystopie zu legen.

      Ensoras Mission bestand nun darin, die Axt an der Wurzel des Übels anzusetzen und sämtliche Hauptakteure nacheinander zu liquidieren. In Sebastian findet sie einen Verbündeten, der sich alsbald dazu bereit erklärt, die schöne Zeitreisende mit den Cyborg-Anteilen in ihrem Vorhaben zu unterstützen.

      Im Anhang hatte Clara Matthias ein weiteres Buchkapitel gesandt, und er zweifelte keinen Moment daran, dass ihr geliebtes Baby dereinst als literarische Geburt in Form eines Buchs das Licht der Welt erblicken würde. Er las den Text, ging zu Bett und wälzte sich in einen unruhigen Schlaf.

      Ein Traum zerrte seine schmutzige Tat wieder hoch. Schweißgebadet, schreiend, wild um sich schlagend und nach Luft schnappend wachte er auf und spürte unsichtbare Hände sein Schicksal weben. Jäh erhob er sich aus dem Bett. Eine abgrundtiefe Abscheu vor sich selbst schnürte ihm die Kehle zu.

      Als der Traum allmählich verblasste und er sich beruhigt hatte, entschloss er sich dazu, zum Haus der Familie Steiner zu fahren.

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