allem der Dreierrhythmus dürfte Vielen bekannt sein, z. B. aus Aschenputtel, das dreimal dem Prinzen begegnet und beim dritten Mal den berühmten Schuh verliert. Und am Ende des Märchens, na, Sie wissen schon.
Die Sprache des Volksmärchens hat – ebenso wie der Aufbau – einen hohen Wiedererkennungswert. Überall begegnen uns auch hier Formeln, Verse und Sprüche, die einen ganz eigenen Stil prägen. Ein Beispiel: In DIE GÄNSEMAGD spricht die als ebensolche verkleidete Prinzessin jeden Morgen beim Hinaustreiben der Gänse aus der Stadt zum abgeschlagenen (!) Kopf ihres Pferdes:
„O du Falada, da du hangest“,
Und der Kopf antwortet mit dem Sprüchlein:
„O du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
ihr Herz tät‘ ihr zerspringen.“
Das Tier, vermeintlich durch seinen grausamen Tod von einer hochmütigen Magd der Prinzessin zum Schweigen gebracht, verrät natürlich trotzdem zum Schluss, dass die Verräterin nur den Platz der rechtmäßigen Königin an der Seite des jungen Königs eingenommen hat und – ja genau – die Magd entgeht nicht ihrer Strafe und die Heldin herrscht zum Schluss zusammen mit dem König in Frieden und Eintracht.
Dass auch Sprache und Stil des Märchens formelhaft sind, mag nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass die Märchen mitten aus dem Volk gegriffen sind, bzw. einer Tradition mündlicher Weitergabe entstammen. Im Falle der Kinder- und Hausmärchen ist allerdings die Frage, wie viel „Stimme des Volkes“ noch in den Volksmärchen steckt, die von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelt und vor allem von Wilhelm Grimm spätestens ab der 2. Auflage von 1819 auch noch gehörig überarbeitet wurden. Doch dazu später mehr.
Ebenfalls auffällig ist, dass Personen, Gegenstände und die Natur flächenhaft wirken. Märchen zeichnen sich nicht gerade durch langwierige und detaillierte Beschreibungen aus, es nennt und schildert nicht, wie Lüthi feststellt. Die einzelnen Figuren haben eine scharfe Kontur und grenzen sich stark voneinander ab. Sprich, es gibt die schöne Königstochter, die böse Stiefmutter, die eiserne Stadt, den großen Drachen und so weiter. Die Beschreibung geht nie in die Tiefe, sondern glänzt durch Sparsamkeit. Oder wie Lüthi sagt, das Märchen „kennt keine Schilderungssucht.“1
Von dieser Eigenschaft weichen die Brüder Grimm sogar zum Teil ab, wenn sie einer Hexe rote Augen und einen wackelnden Kopf verpassen, statt, wie im Volksmärchen nur von einer „häßlichen Alten“ zu sprechen.
Märchenheldinnen und -helden stehen allein da. Sie sind ausgegrenzt und müssen ihre Probleme so lange auf eigene Faust bewältigen, bis ein Helfer, sei es ein übernatürliches Wesen, ein Tier oder eine freundliche Seele eingreift und ihr oder ihm zur Seite steht. Und auch mit Sidekicks und Requisiten ist das Märchen geizig. Sie tauchen auf, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen und verschwinden dann wieder in der Versenkung. Alles geschieht punktuell und nur, um die Handlung voranzutreiben.
Wenn wir einen genaueren Blick auf die Ausstattung werfen, so fallen ein paar Merkmale besonders auf. Märchen haben eine Vorliebe für Kontraste, sowohl was Farben, als auch was Materialen angeht. Lüthi beschreibt den Prozess des Metallisierens und Mineralisierens, der nicht nur unbelebte Gegenstände betrifft, sondern auch Pflanzen Tiere und Menschen. Alles kann im Märchen aus Gold, Silber, Glas, Eisen, Kupfer oder Diamant sein.2
Äußerst merkwürdig verhält es sich zudem mit dem Faktor Zeit im Märchen. Er fehlt nämlich im Prinzip, das Märchen ist also zeitlos. Menschen und Tiere werden in ihrem Zustand beschrieben – sie können jung, alt oder sogar uralt sein, aber genau das bleiben sie dann auch. Selbst bei jahrelanger Verzauberung, bleibt alles beim Alten – man denke nur an die hundert Jahre Schlaf in „Dornröschen“. Wird der Zauber unwirksam, stellt man fest, dass für die Opfer überhaupt keine Zeit vergangen ist.
Da wir gerade mit Max Lüthi einen „Helden der Erzählforschung“ genannt haben, kommen wir nicht darum herum, noch zwei weitere zu erwähnen. Der Finne Antti Aarne und der US-Amerikaner Stith Thompson haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganze Arbeit geleistet, um die Fülle von Volksmärchen aus Deutschland, Finnland und Dänemark zu beschreiben und nach einzelnen Motiven zu katalogisieren. Den Anfang machte Aarne im Jahr 1910 mit seinem Verzeichnis der Märchentypen mit Hülfe von Fachgenossen, Thompson legte 1927 nach und ergänzte Aarnes Vorarbeit. Im Jahr 1961 war dann schließlich mit The Types of the Folktale. A classification and bibliography das entstanden, was in Fachkreisen bis 2004 abgekürzt AaTh hieß. Nach einer Überarbeitung durch den Erzählforscher Hans-Jörg Uther nennt man das Nachschlagewerk nun Aarne-Thompson-Uther oder schlicht ATU.
Der Clou an der Sache ist, dass man dank Aarne und Thompson zum Beispiel recht schnell nachvollziehen kann, welches Motiv in welchen Märchen vorkommt. Wenn man also beispielsweise wissen will, wie oft und wo so etwas wie ein verzauberter Prinz in verschiedenen Volksmärchen vorkommt, muss man sich die entsprechende Motiv-Gruppe im Aarne-Thompson-Uther-Index ansehen.
Die Motive sind im ATU unter bestimmten Überschriften zusammengefasst, die sich an den herausstechenden Merkmalen einer Märchengruppe orientieren. Da haben wir zum Beispiel die große Gruppe der Zaubermärchen, die von Nummer 300 bis 749 reicht. Zaubermärchen heißen die Geschichten deshalb, weil sie Magie und Übernatürliches in ihren Motiven haben. Diese Einteilung alleine wäre aber etwas grob, deshalb ist diese Gruppe noch weiter verfeinert und es gibt noch „Übernatürliche Gegenspieler“, „Übernatürliche oder verzauberte Verwandte“, „Übernatürliche Aufgaben“, „Übernatürliche Helfer“ und einige mehr. Es kann ganz spannend sein, sich die Querverbindungen der Motive der verschiedenen Märchen anzusehen und dort, wo es sich anbietet, werden wir das auch in den folgenden Kapiteln tun.
Die Kunst des Weglassens von ausufernder Beschreibung und Ausstattung, von der wir weiter oben gesprochen haben, hat wesentliche Vorteile, wenn man eine Geschichte mündlich zum Besten geben möchte. Darüber hinaus führt das Geizen mit Adjektiven dazu, dass sich jeder Hörer (und schließlich Leser) sein eigenes Bild von der Szenerie macht. Wir als „Konsumenten“ sind ziemlich geschickt darin, die Lücken zu füllen und damit eine ganz eigene Version des Märchens zu schaffen. Sicherlich spielt auch dieses Stilelement eine eigene Rolle in der neverending story der Märchenerfolge in Literatur, bildender Kunst, Film und Fernsehen.
Es ist verlockend, sich noch viel tiefer in die Analyse von Form und Stil des europäischen Volksmärchens zu stürzen und wem dieser kurze Parforceritt nicht genügt, dem seien die Abhandlungen Lüthis wärmstens ans Herz gelegt. Auch bei der Betrachtung der hier ausgewählten Märchen selbst, wird sicher das ein oder andere noch zur Sprache kommen.
Das alles soll aber nicht heißen, dass es zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der Sammeltätigkeit der Grimms nur eine Version jedes Märchens gegeben hat. Beileibe nicht. Auch in dieser Hinsicht haben Jacob und Wilhelm ausgewählt, zusammengestellt und verändert. Das Ergebnis ist eine romantisch getönte und von Bürgerlichkeit durchdrungene Version des „Volksmärchens“, die es in den Kanon der Kinder- und Hausmärchen geschafft hat. Damit haben die beiden unser heutiges Bild von Märchen so entscheidend geprägt, dass die meisten von uns gar nicht mehr wissen, dass es viele kleine Schnipsel der bekannten Geschichten gibt, die nur in den Anmerkungen der Verfasser selbst auftauchen. Warum das alles, wenn man doch eigentlich streng wissenschaftlich gesehen, 1:1 das aufzeichnen müsste, was die Märchenerzähler von sich geben? Jacob Grimm hätte dem sicher zugestimmt, denn ihm ging das Umschreiben, Ergänzen und Aufhübschen der Volkserzählungen vollkommen gegen den Strich. Mit dieser Einstellung schwamm er zu Beginn des 19. Jahrhunderts allerdings ziemlich gegen den Strom. Als sich die Hessischen Juristen Jacob und Wilhelm Grimm, inspiriert durch eine Idee des Schriftstellers Clemens Brentano an die Volksmärchensammelei machten, war es gute Tradition, beim Umgang mit den Volkserzählungen seine eigene Schreibkunst einfließen zu lassen. Der Grund hierfür liegt vielleicht in der merkwürdigen Beziehung der Schriftsteller zu diesen Stoffen, die irgendwo zwischen Verehrung und Verachtung rangiert. Das 18. Jahrhundert, die große Zeit der Aufklärung hat die „Ammenmärchen“ noch lächerlich gemacht und mit Füßen getreten. Doch es zeichnet sich eine neue Entwicklung ab, nämlich die Stimme des Volkes in Liedern, Sagen und eben auch Märchen auf ein Podest zu heben und zur eigentlichen