Martin Eichtinger

Steirische Lausbubengeschichten


Скачать книгу

Flieger

      Es war ein Fahrrad aus den Fünfzigerjahren. Ein Männerrad, das heißt mit einer Querstange vom Sattel zur Lenkstange und einem sehr hohen Rahmen. Vater hatte es nach dem Tod der Großeltern nach Weitersfeld gebracht und bei Frau Sirf eingestellt. Uns Buben begeisterten der große runde Scheinwerfer, der breite Ledersattel und der weit ausladende Lenker.

      Vater hatte das Rad nie repariert. So beschlossen wir eines Tages in den Ferien, das Rad selbst herzurichten. Zunächst wurde es vor unserem Haus gewaschen und geputzt. Unter einer dicken Dreckschicht kam das Steyr-Puch-Waffenrad zum Vorschein, was uns sehr beeindruckte, denn auch wir wussten schon um die Langlebigkeit dieser Räder.

      Interessant war die Vorderbremse. Sie bestand aus einem senkrecht verankerten Eisenstab, der durch ein Loch im vorderen Kotflügel einen Bremsklotz mit Gummibelag von oben auf das Vorderrad presste, sobald man den Bremshebel zog. Die zweite Bremsmöglichkeit war der Rücktritt. Das Rad hatte keine Gänge. Ein kleiner, an das Vorderrad anklappbare Dynamo versorgte den großen Scheinwerfer und das Rücklicht mit Strom.

      Auch wenn man den Sattel auf seine tiefst mögliche Position einstellte, so war doch der Abstand vom Sattel zum Boden so groß, dass wir alle vier nur beim Gartenmäuerl auf das Rad aufsteigen konnten. Die Herausforderung bestand darin, mit dem Rad zu fahren und aufzupassen, dass man nie stehen bleiben und absteigen musste, denn das konnte man nur durch seitliches Herunterspringen vom Rad bewerkstelligen, wobei das Rad dann meist mit lautem Getöse umfiel.

      Georg war wie immer der Geschickteste von uns. Es gelang ihm sogar, einige Minuten am Stand zu balancieren, indem er das Vorderrad hin und her bewegte. Wenn zum Beispiel, was sehr selten vorkam, ein Auto vor unserem Haus vorbeifuhr, blieb er auf diese Weise abseits der Straße stehen, tänzelte mit dem Rad umher und fuhr danach wieder ganz gemütlich auf die Straße zurück.

      Sowohl der Weg zum Mühlgang-Tumpf als auch der Weg zur Riesel und zu anderen unserer Lieblingsorte waren einspurige Wegerln, die sich von den umliegenden Wiesen und Unterholz nur dadurch unterschieden, dass auf ihnen kein Gras wuchs. Auf diesen schmalen Pfaden kam nun das Waffenrad zum Einsatz, nachdem wir es geputzt und geölt hatten. Es war auch der lang ersehnte Zuwachs zu unserer Fahrzeugflotte, zu der bislang ein kleines Kinderrad gehört hatte, mit dem jeder, der es fuhr, wegen seiner kleinen Übersetzung gegenüber den anderen zurückbleiben musste.

      Georg fuhr zumeist mit dem Waffenrad. Er hatte aber das Problem, dass er als der kleinste von uns im seltenen Fall eines erzwungenen Abstiegs mit einem hohen Satz von diesem Riesenfahrrad springen musste. Wir anderen fielen regelmäßig mit diesem herrschaftlichen Fahrrad hin und verdankten ihm so manche Abschürfung an Händen und Knien.

      Trotzdem wollten wir alle genau mit diesem Rad fahren. Es gab fast nichts Schöneres, als in der großen Höhe des Sattels mit dem breiten Lenker die Welt quasi aus dem ersten Stock zu betrachten und von oben auf die anderen Fahrräder herabzublicken. Irgendwer erfand den Namen „Flieger“ für das Fahrrad. Und genau das war es: das Gefühl des unbeschwerten Fliegens, wenn man mit diesem alten Fahrrad über Stock und Stein kreuzte.

      Als wir in den Sechzigerjahren nach Weitersfeld kamen, gab es kaum Asphaltstraßen. Vor unserem Haus führte eine Schotterstraße vorbei, auch die Straße bis ins Dorf, ja auch jene nach Mureck waren Schotterstraßen. Das machte das Fahrradfahren nicht gerade zum Vergnügen. Die blutigsten Wunden setzte es mit dem Flieger, wenn wir auf der Schotterstraße aus großer Höhe hinfielen.

      In Weitersfeld gab es damals viele lange und harte Winter. Vater maß den Winter immer an der Menge an Koks, die er im Ofen während unserer Weihnachts- und Semesterferien verheizen musste, damit es im Haus behaglich warm war.

      Vater fuhr vor den Ferien voraus nach Weitersfeld. Die Südautobahn gab es noch nicht. Die Bundesstraße war die berühmte Triester Straße, die Wien nach Süden verließ und auch in Graz die Südausfahrt darstellte. Sie galt als sehr gefährlich. Es gab nämlich bis Weitersfeld unzählige Ortsdurchfahrten. Immer wieder riss übermüdeten Autofahrern, oft auch Gastarbeitern, die im Urlaub möglich rasch zu ihren Familien nach Jugoslawien oder in die Türkei wollten und Tag und Nacht ohne Pause bis an ihr Ziel durchfuhren, der Geduldsfaden, und sie überholten im Ort oder im Überholverbot. Über die folgenschweren Unfälle wurde dann seitenlang in der „Kleinen Zeitung“ berichtet.

      Graz – Feldkirchen – Thalerhof – Abtissendorf - Kalsdorf – Werndorf – Wildon – Lebring – Leibnitz – Retznei – Ehrenhausen – Spielfeld. Noch heute kenne ich jeden Bahnhof, bei dem der Zug stehenblieb. In Spielfeld stiegen wir dann in den Regionalzug, das „Bähnle“ – wie Vater es nannte – nach Weitersfeld.

      Die Straße folgte der Bahnlinie. Besonders gefährlich war die Landscha-Allee, eine zehn Kilometer lange Gerade von Wagna bei Leibnitz bis Spielfeld-Straß. Es gab zwar eine fast durchgehende Sperrlinie, aber nirgendwo wurde so viel überholt wie hier. Und nirgendwo geschahen so viele Unfälle wie hier. Und das bei sehr hohen Geschwindigkeiten. Zu Allerheiligen wurden die Stellen, an denen es Todesopfer gegeben hatte, mit weißen Kreuzen gekennzeichnet und man fuhr wie durch einen Wald aus weißen Kreuzen: Es war erschreckend!

      Vater wich der Bundesstraße 67 aus. Er fuhr nach Südosten, von Graz-Puntigam über Raaba zum Hühnerberg, dann nach Heiligenkreuz am Waasen und über St. Georgen an der Stiefing und Laubegg bis nach Gabersdorf und dann über die sogenannte Bauernautobahn über Weinburg, Brunnsee bis nach Weitersfeld. Auf dieser Straße, die auch sehr viele gerade Stücke hatte und ein schnelles Vorwärtskommen erlaubte, dauerte die Fahrt nach Weitersfeld eine Stunde.

      Die kalten Winter in Weitersfeld waren auch feucht. Dazu trug sicher die Mur bei. Jedenfalls waren die Schotterwege stets mit einer Frostschicht bedeckt. Die wenigsten Baustoffe halten Feuchtigkeit und starken Frost aus. Die Kraft des frierenden Wassers ist unbezwingbar. So brachen schon während des Winters große Schlaglöcher in den Schotterstraßen auf und bei Frühlingsbeginn sahen die meisten Straßen aus, als hätten alle paar Meter kleine Bomben Trichter geschlagen.

      Steffl war der Straßenarbeiter der Straßenmeisterei Weitersfeld. Er bewegte vor sich eine orange große Scheibtruhe, die an den Rändern mit rot-weiß-roten Streifen gekennzeichnet war. Die Scheibtruhe war voll Schotter. Steffls Aufgabe bestand darin, jeden Frühling alle Löcher in den Schotterstraßen Weitersfelds zu stopfen. Er machte dies hingebungsvoll und achtete dabei sehr sorgfältig darauf, dass ihm die Arbeit nicht ausgehen würde.

      Sein Tag begann mit dem Beladen der Scheibtruhe. Geschwächt von dieser Arbeit, die er bei der Straßenmeisterei an der Bundesstraße zu erledigen hatte, schleppte er sich mühsam bis ins Dorf und sank beim Stockerwirt in die Gaststube. Hier war man sehr großzügig. Niemals musste Steffl alles bezahlen, was er so im Laufe eines Vormittags konsumierte. Und es war durchwegs hochprozentig, was er zu sich nahm. Leider hinterließen diese kräftigenden Schlucke Spuren an seinem Körper und er hatte eine dunkle, stark gegerbte Haut im Gesicht, wie man sie am Land bei all jenen sieht, die zu viel trinken und regelmäßig im Wirtshaus sitzen.

      Steffl war sehr freundlich und gutmütig. Er grüßte alle, die an ihm vorbeifuhren. Manch einer blieb stehen, tratschte eine Runde mit ihm und dankte ihm dann für seine Arbeit.

      Steffl schaffte mehrere hundert Meter am Tag. Die Straße sah danach wie ein Fleckerlteppich aus und die unebenen Stellen, an denen sich zuvor die Löcher befanden, machten das Radfahren um nichts leichter. Nach einigen Wochen, wenn viele Radler und Fuhrwerke über Steffls Meisterwerke gefahren waren, war der Schotter fest in den Boden gepresst und man merkte durch die Verwitterung auch farblich nicht mehr, wo Steffl den Belag geflickt hatte.

      Diese spezielle Art des Straßenbelags nannten die Weitersfelder „Stefflasphalt“ und der Ausdruck wurde tatsächlich synonym mit Schotterstraße verwendet. Auf die Frage, wie eine Straße zu einem Gehöft beschaffen war, kam oft als Antwort: „Stefflasphalt“.

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте