tatsächlichen Verhaltens läuft unbewusst ab. Man schätzt, dass ca. 90 Prozent des menschlichen Erlebens und Verhaltens relativ automatisiert abläuft. Studien aus verschiedenen Bereichen der Psychologie aber zeigen, dass viele dieser Effekte reduziert werden können, indem man Menschen diese Effekte bewusst macht (Cassotti & Moutier, 2010). Ein gutes, heute bereits recht bekanntes Beispiel hierfür ist die erste Frage aus dem kognitiven Reflexionstest von Shane Frederick (2005). Machen Sie doch gleich mit und versuchen Sie, diese Frage spontan zu beantworten:
Ein Schläger und ein Ball kosten zusammen 1 Euro und 10 Cent. Der Schläger kostet 1 Euro mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball?
Die spontane Antwort vieler Menschen ist: 10 Cent. Allerdings ist diese impulsive Antwort, die meist automatisch kommt, falsch. Denn würde der Ball 10 Cent kosten, läge der Schläger bei 1,10 Euro und die Summe von Schläger und Ball bei 1 Euro und 20 Cent. Die korrekte Antwort ist daher: 5 Cent. Sie können es gerne nachrechnen!
Sollten Sie dieses Beispiel noch nicht gekannt haben, ist Ihnen sicherlich aufgefallen, dass ein aufwändigerer Prozess nötig war, um die korrekte Antwort zu erschließen – verglichen z. B. mit der Antwort auf die Frage: Was ist das Produkt aus 2 x 2? Problematisch bei diesen unbewussten Fehlern ist zudem, dass wir beim Begehen auch kein Gefühl dafür haben, dass wir falsch liegen könnten. Daher zweifeln wir die Entscheidung auch eher selten an. Allerdings lässt sich die Motivation von Menschen, die eigene Entscheidung noch einmal zu überdenken, erhöhen. Oft reicht es schon, wenn eine Person selbst erlebt, dass auch ihr solche Fehler passieren können. Manchmal reicht auch der Warnhinweis „nicht in die Falle gehen“. Allerdings finden sich in unserem Alltag selten derlei Hinweise und wenn, dann wird ihnen oftmals wenig Beachtung geschenkt.
Das Bewusstmachen psychologischer Prozesse ist bisweilen die einzige effektive Möglichkeit, um unsere kognitiven Prozesse zu beeinflussen. Allerdings ist der Zugang zu uns selbst häufig verzerrt. Oft überschätzen wir unsere Fähigkeiten und Attribute. Vor allem, wenn wir uns mit dem Durchschnitt vergleichen. Dann nehmen wir uns aus Gründen des Selbstwertschutzes als bessere Menschen wahr, als wir vielleicht sind. Beispielsweise können Menschen an einem Bettler vorbeilaufen und zugleich den Eindruck haben, dass sie selbst ein sehr prosozialer Mensch sind. Aber bisher haben wir nichts Besseres als Aufklärung über psychologische Prozesse, also Psychoedukation! Zwar können wir das biologisch-kognitive System mittlerweile recht gut an digitale Systeme koppeln, das heißt wir können Signale im Gehirn gut messen und zur Steuerung digitaler Prozesse verwenden. Allerdings können wir von extern Prozesse im Gehirn noch nicht langfristig verändern. (Ob dies aus ethischer Sicht aber tatsächlich erstrebenswert wäre, ist natürlich fraglich.) Daher liegt der einzige Weg zur Veränderung bislang im Bewusstmachen möglichst vieler tief in uns „schlummernder“ psychologischer Prozesse, wie zum Beispiel Denkprozesse (Kognition), Gefühle (Emotion), Einstellungen und Verhaltensintentionen. In anderen Worten: Wir müssen das bewusste Denken über mögliche Prozesse, Fehler und Fallstricke im automatischen Denken informieren – zum Beispiel durch Lernen, Lesen, oder Reflektieren. Dies tun wir im vorliegenden Buch zu dem uralten menschlichen Problem, dass wir anscheinend Wohlstand und Frieden nicht lange aushalten/ aufrechterhalten können. Immer wieder, so scheint es, überwiegt das Streben auszubrechen und Konflikt, Aggression und Zerstörung anzuzetteln: Sei es alleine oder in Gruppen oder gleich in ganzen Nationen. Doch ist dem wirklich so und wenn ja, warum? Diesen Fragen wollen wir aus verschiedenen psychologischen Perspektiven nachgehen.
Evidenz 1:
Gute Zeiten erhöhen den menschlichen Selbstwert und somit die Aggressionsbereitschaft
Menschen empfinden ihr Wissen über sich selbst, also über die eigene Person, als so etwas wie einen inneren psychischen Kern. Man spricht hier auch vom Selbstkonzept, das ein jeder von sich hat (Frey & Gaska, 1993). Dieses Selbstkonzept ist bei den meisten psychisch gesunden Menschen so angelegt, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie ihren eigenen Wert als Mensch systematisch überschätzen (Taylor & Brown, 1988). Wir haben das Gefühl, dass wir überdurchschnittlich attraktiv, sympathisch und begabt sind (Williams & Gilovich, 2012). Im Bereich des Autofahrens zeigt das beispielsweise eine Studie von Svenson (1981). Hierbei wurden 161 Studierende in Schweden und den USA hinsichtlich ihrer Fahrfertigkeiten befragt. Das Ergebnis war: 93 Prozent der US-amerikanischen und 69 Prozent der schwedischen Gruppe schätzten ihre Fahrfertigkeiten als überdurchschnittlich ein. Studienergebnisse wie dieses finden sich in der psychologischen Forschung zahlreich. Neben dem Überschätzen der eigenen Fähigkeiten haben wir außerdem oft das Gefühl, dass unsere Entscheidungen und Handlungen wichtiger sind als die der anderen Menschen (Taylor & Brown, 1988; Fischer, Greitemeyer, & Frey, 2007); darüber hinaus glauben die meisten von uns, dass sie selbst die Welt um sich herum realistischer sehen, als es die Mitmenschen tun (auch bekannt unter dem Begriff bias blind spot [auf Deutsch etwa Verzerrungsblindheit]; Kahneman, 2010). In anderen Worten: Menschen „leiden“ sozusagen „konstruktionsbedingt“ unter Selbstüberschätzung. Dies ist jedoch – sofern in adäquatem Rahmen – auch gut für das Individuum. Schon allein deshalb, weil es sich gut anfühlt, zumindest in der eigenen Wahrnehmung zu den Besten zu gehören oder aber wenigstens über dem Durchschnitt zu liegen. Lange Zeit jedoch wurde von verschiedenen Theoretikern angenommen, dass eine realistische Wahrnehmung der eigenen Person und der Welt entscheidend für eine gesunde psychische Konstitution und Entwicklung ist (Jahoda, 1958): „Die Wahrnehmung der Realität wird als geistig gesund bezeichnet, wenn das, was der Einzelne sieht, dem entspricht, was tatsächlich da ist“ (Jahoda, 1958, S. 6). Eine gesunde Wahrnehmung sei der Prozess, die Welt ohne Verzerrung so zu betrachten, wie sie ist, auch wenn man sie sich anders wünscht (1953, S. 349, nach Taylor & Brown, 1988, S. 194). Seit den 1980er-Jahren jedoch häufen sich Studien, die eben diese These widerlegen. Gerade eine etwas überhöhte, positive Selbstwahrnehmung, ein erhöhtes Maß an empfundener Kontrolle und unrealistischer Optimismus sind charakteristisch für das „normale“ menschliche Denken (Tayler & Brown, 1988). Wenn wir dieses Gefühl der Selbsterhöhung nicht erzeugen könnten, dann würden wir sehr wahrscheinlich über kurz oder lang depressiv werden und keinen oder nur wenig Fortschritt erzielen. Studien zeigen, dass Menschen, die an einer klinischen Depression leiden, diese positiven Illusionen der eigenen Selbstübersteigerung nicht mehr erzeugen können (Tabachnik, Crocker, & Alloy, 1983; Alicke & Govorun, 2005). Es ist daher wichtig festzuhalten, dass Verzerrungen auch Gutes haben. Wenn wir jedoch an kollektives Verhalten von Menschen denken, zum Beispiel kommerzielle und nicht kommerzielle Organisationen, Regierungen, oder das Verhalten von ganzen Nationen und Kulturen, dann ist dieses Gefühl der Selbsterhöhung häufig schädlich. Meist ist uns die Gruppe, der wir angehören, wichtiger und erscheint uns besser als andere Gruppen (ingroup-outgroup- Effekt; Haslam, 2004); wir haben dann das Gefühl, dass man andere Gruppen leiden lassen kann – und das vor allem, wenn es dazu dient, die eigene Gruppe zu verschonen.
Was hat das mit unserer Annahme zu tun, dass Menschen immer wieder Leid und Zerstörung suchen oder zumindest tolerieren? Es ist zu erwarten, dass der Selbstwert von Menschen steigt, wenn diese in ökonomisch- politisch guten und friedlichen Zeiten leben. Wir sehen in den letzten 20 Jahren eine starke Tendenz zur Individualisierung. Wir werden uns selbst immer wichtiger; wir versuchen immer gesünder und länger zu leben, weil ja gerade wir selbst es sind, die so wichtig sind – wichtiger als alle anderen. In Zeiten des Wohlstandes steigt auch der individuelle Selbstwert (Schmitt & Allik, 2005). Gerade dieser gesteigerte Selbstwert durch beispielsweise Wohlstand kann Menschen und ganze Gesellschaften anfällig für aggressive Reaktionen und Konflikte machen. Früher dachten die psychologischen Forscher, dass uns ein gefühlt hoher Selbstwert vor Aggression und Wut schützt. Es wurde gemeinhin angenommen, dass ein geringes Selbstwertgefühl als eine relevante Ursache für Gewalt angesehen werden kann (Baumeister, Smart, & Boden, 1996). Heute wissen wir, dass häufig genau das Gegenteil der Fall ist: Ein zu hoher Selbstwert und somit starke Selbstüberschätzung können dazu führen, dass wir Konflikte mit anderen Menschen als ganz besondere Frechheit empfinden. Beispielsweise zeigen Narzissmus-Studien, dass ein überhöhter Selbstwert positiv mit Aggression korreliert (Locke, 2009). Das heißt, Personen mit höheren Narzissmus-Werten weisen auch höhere Werte hinsichtlich ihrer Aggressionsbereitschaft auf. Allerdings scheint auch die Stabilität des Selbstwertgefühls