Felix Leibrock

Luthers Kreuzfahrt


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Mannesidentität. Mädchen erobern, das war der Weg, das Selbstbild zu korrigieren, vor sich selbst und den anderen. Die Jungen seiner Klasse eilten nach Schulschluss zum nahe gelegenen Mädchengymnasium. Schon bald gingen sie mit einer Auserwählten Händchen haltend zur Eisdiele oder in das Eye, den Jugendclub, in den nur reinkam, wer gute Beziehungen zum Türsteher hatte. Didi gehörte nicht dazu. Wütend drosch er zu Hause die Akkorde in die Gitarre. Auch er sehnte sich jetzt plötzlich nach einer Freundin, die er von ganzem Herzen liebte und die ihm diese Liebe erwiderte. Doch die Beutezüge ans Mädchengymnasium liefen ohne ihn ab.

      Wie ein Wunder erschien es ihm, als sie plötzlich in seinem Leben auftauchte: Ulrike Braunholz. Nie zuvor hatte er sie gesehen. Den Namen las er auf ihrer Schultasche, als sie vor ihm in den Bus stieg. Er empfand sie überirdisch schön. Einmal erhaschte er an der Bushaltestelle einen Blick in ihre dunkelbraunen Augen. Für ihn war es der Blick in die Tiefe seines Lebens. In ihr, Ulrike, lagen alle Antworten auf seine existenziellen Fragen verborgen. Sie, nur sie war die Frau, mit der zusammen ein Weiterleben einen Sinn hatte. So dachte der Fünfzehnjährige. Wie aber sollte er, der, von einer langweiligen Cousine bei Familienfeiern abgesehen, noch nie mit einem Mädchen gesprochen hatte, wie sollte er sie kennenlernen? Er hatte keine Ahnung, wie man anmacht, anbaggert, aufreißt. Begriffe, die er von Klassenkameraden aufgeschnappt hatte. Ulrike ansprechen, allein der Gedanke bereitete ihm Schweißausbrüche. Aber sie war sein einziger Ausweg. Für sie war er in die Welt gekommen. Und sie, hoffentlich, hoffentlich, für ihn. Sie kennenlernen. Nichts essen konnte er in dieser Zeit, an Schlaf war nicht zu denken. Er war krank, herzkrank, ulrikekrank. Dann war sie da. Die Idee, wie sie anzusprechen war.

      IV

      Urlaub, Zeit zum Ausschlafen. Nicht so auf der NOFRETETE. Vor Sonnenaufgang, exakt um 5.15 Uhr, joggte auf Deck 15, dem Sonnendeck, die sehnige, drahtige, stirnbandgezierte Gazelle Gesine Harms aus Harrislee an der dänischen Grenze, das blonde Haar zu einem Hochzopf zusammengeflochten, die Ohren iPod-bestöpselt, ihre Runden um den Schornstein. Das war nur das Vorspiel zur einstündigen Übungseinheit an den Foltergeräten des Fitness-Centers. Auf diese Art bereitete sie vielen, in die Restaurants zum Frühstück strömenden Gästen am Rand der Adipositas ein schlechtes Gewissen. Nicht ohne Absicht. Die erwünschte Wirkung war aber fragwürdig, hörte sie doch einen schmerbäuchigen Herrn mit tiefsitzender Cordhose Worte wie „Fitness-Terroristin“ und „Schau dir das Wäschegestell an“ zu seiner ebenfalls kugelrunden Gattin nicht gerade leise sprechen. Gesine Harms belegte Kurse in Tae Bo, Ballooning Ball, Power Dumbell, Step, Yoga und Pilates, um dann zur Mitternachtsstunde am Indoor-Cycling auf dem Sonnendeck teilzunehmen. Am Abend zuvor, beim Auslaufen aus Palma de Mallorca, hatte sie sich beim Buffet auf den Caesar Salad, die gebratene Ananas mit Kokossorbet und die glasierten Perlzwiebeln gestürzt. Dabei fragte sie den philippinischen Buffethelfer, dem ein Schild den in diesem Zusammenhang irritierenden Namen „Bonsai“ zuwies: „Ist die Geflügelbrust auf dem Caesar auch schön mager?“ „Ja, Mam“, kam es zurück. Gesine Harms war nicht überzeugt, er habe sie verstanden. Bonsai hatte offenbar die Anweisung, die Fragen der Gäste stets zuvorkommend, mit einem Lächeln und zustimmend zu beantworten. Sein freundlicher Blick verleitete die Fastdänin, die etwas Sinnenverachtendes verströmte, zu einem Augenaufschlag und einem Deut mit dem rechten Zeigefinger auf ihr eigenes karges Dekolleté, das sich in einer lila Strickweste verlor. Gerade wollte sie zu formulieren beginnen, wie man es Fremdsprachigen gegenüber gelegentlich tut: „Ich“ (Zeigefinger), „ich“ (noch mal Zeigefinger) „nix fett essen ...“, da sah er auf ihren Oberkörper und sagte mit breitem Lächeln: „Ah, verstehe, ja, Hühnerbrust, mager, Mam“. Kurz überlegte sie, ob sie da was falsch verstanden hatte. Dann war ihr klar, dass die Äußerung des Kochs mit ihrer Handbewegung zusammenhing. „Unerhört“, sagte sie vor sich hin, „Was dieser Bonsai sich wohl untersteht!“ Kurz überlegte sie, sich beim Front Office Manager zu beschweren, unterließ es aber angesichts der kompromittierenden Beweisführung, die anzutreten ihr nicht erspart bliebe. Dafür bekommt der kein Trinkgeld, nicht einen müden Cent, schwor sie sich.

      Während sie ihre Runden drehte, hatte sich an exponierter Stelle auf Deck 13, dort, wo sich auf anderen Kreuzern Liebende das Weiterschlagen des Herzens Hüfte an Hüfte und unter elegischen Klängen zusichern, eine Armada von Photographen aufgebaut. Mit ihren Stativen und überdimensionierten Objektiven erweckten sie den Anschein, neue Galaxien, das Heranrücken der mittelalterlichen Türkenflotte oder zumindest den Start der Air Force 1 auf der anderen Seite des Erdballs einzufangen. In Wirklichkeit ging es ihnen, mit dem Sinn für außergewöhnliche, einmalige, noch nie dagewesene Naturereignisse, um den Aufgang der Sonne, den sie in Myriaden von Fotos festhielten. Bedauernswert die Verwandten und Bekannten, die, an verregneten Abenden in muffigen Wohnstuben in Hoyerswerda oder Hanau mittels dieser Aufnahmen das millimeterweise Aufsteigen eines roten Punktes am Horizont nachzuvollziehen gezwungen waren, begleitet von einem emphatischen „Da, da, da ist sie, seht ihr sie, da, da, die Sonne, da, seht ihr sie …“ des Photographen.

      An einer abgelegenen Stelle des Decks stand Wolle Luther. In der rechten Hand hielt er eine Plastiktüte von Aldi. Seine Blicke schweiften über das Deck. Niemand durfte ihn bei der Aktion beobachten. Umständlich kramte er ein schwarzes Kleidungsstück hervor. Sein Lutherrock war es, den ihm ein Kirchenvertreter während der Zeit geschenkt hatte, als er glaubte, Martin Luther höchstselbst zu sein. Nein, das war er nicht. Aber er fühlte sich als Luthers Anwalt. Dem Reformator sollte Gerechtigkeit widerfahren. Keine Anachronismen! Keine Luther-Sätze aus der Reformationszeit, die heute noch genauso gelten sollen! Schutz des Reformators vor seinen blinden Verehrern! Um diese Aufgabe umzusetzen, um seine neue Rolle anzunehmen, brauchte Wolle eine Symbolhandlung. Er sah ein letztes Mal, nicht ohne Wehmut, den Lutherrock an und packte ihn dann wieder in die Plastiktüte. Auf einen Zettel schrieb er: „Zur allgefälligen Benutzung. Wolle Luther.“ Den Zettel gab er ebenfalls in die Tüte, verschnürte und verklebte sie und holte weit aus. Der so eingetütete Lutherrock schwebte in die von den Schiffsschrauben aufgewühlten Wellen. Ein kurzer Tanz auf den Schaumkronen, und Neptuns Kleiderkammer hatte sich erweitert.

      Das eigentliche Leben bei aufgehender Sonne spielte sich auf dem Pooldeck ab. Die Philippina Mary Ann, die gerade die Handtuchausgabe eröffnete, sah sich verschlafenen, aber dennoch nicht aggressionsfreien Gesichtern ausgesetzt. Die drei Söhne der Familie Becker aus dem Saarland; Jupp Schmitz aus Köln mit der elfjährigen Tochter Julia; die mit zwei anderen Witwen verreisende Helga Haseneier aus Offenbach, die ihren Namen, um anzügliche Gedanken zu vermeiden, seit Kindheit an „Hase-neier“ aussprach; Ottilie Greis und zwei andere Mitglieder des Frauenkneippvereins Harmonie Stuttgart-Bad Cannstatt; Pfarrer Cornelius Schwacke, Leiter einer Luthertagung (auch das war auf der NOFRETETE mit ihrem hochmodernen, allen technischen Wünschen gewachsenen Conference Center möglich); Hugo Frank mit Panamahut als Vertreter der Sächsischen Imker. Bis auf Schwacke, der abwartete, entrissen sie Mary Ann geradezu die Pool-Handtücher, um sie, ergänzt mit Sonnenbrillen, vergilbten Bastei-Lübbe-Schmökern und fast leeren Cremetuben auf die in geordneter Phalanx stehenden Liegen zu werfen. Die Handtuchholer waren nach einem undurchschaubaren, aber effizienten Selektionssystem von ihrem Clan oder ihrer Stammesgemeinschaft auserkoren, stellvertretend für die anderen die besten Plätze für die Vergnügungen des ersten Tages, eines Seetages, also das Animationsprogramm mit Gewinnmöglichkeiten, das Freibier des Kapitäns und andere Lustbarkeiten, zu okkupieren. In an paramilitärische Operationen erinnernden Formationen gingen sie vor und binnen weniger Minuten hatte die Pooldeckguerilla den ersten Grabenkampf gewonnen. Alle Liegen vor den diversen Pools und der später als Bühne dienenden Freitreppe hatten sie unter Zeugen belegt. Kein Zweifel, hier waren Wiederholungstäter am Werk, notorische NOFRETETE-Reisende, die auf der ersten Fahrt leer ausgegangen waren und auf einem abgelegenen Liegestuhl fernab des Geschehens unter der prallen Sonne dahindarbten. Aus dieser frustrierenden Erfahrung klug geworden, hatten sie jetzt das kryptische Motto verinnerlicht, das Darwins survival of the fittest nur unwesentlich nachstand: Der frühe Vogel fängt die Liege.

      Ab 7.00 Uhr füllten sich die Restaurants mit Frühstücksgästen, denen der viele Gratis-Wein beim Buffet des ersten Abends anzusehen war. Der in Zivil umherstreifende Schiffsarzt Dr. Moll, ein Ruheständler, der im Gegenzug für seine Leistungen kostenfrei reiste, erspähte erste Opfer und gab beim Frühstück Ferndiagnosen. Ein Spiel, das er sich seit Jahren mit seiner Gattin, einer Krankenschwester, die er in vierter