Was geschrieben steht in Zeitschriften und Büchern, nehme ich schwarz auf weiß. Nur: Nach der Lektüre vieler gut meinender Ratschläge geht es mir oft schlechter als vorher. Du brauchst dies und du brauchst jenes, du sollst dies und du sollst jenes … gerade ging es mir eigentlich ganz gut und nun – Ängste, Bedürfnisse, Unzufriedenheit, Druck …
Manches in der Ratgeberszene ist ja auch gar nicht verkehrt. Ich habe kompetente Ratgeber schätzen gelernt, etwa zu Themen wie Partnerschaft, Erziehung von Kind und Hund, Ernährung, Lebensmitte, Älterwerden, Reisen, Gemüseanbau, Saunieren, Exceldateien erstellen und meinetwegen auch Farb- und Stilfragen. Wenn ich vor einem neuen Lebensabschnitt stehe, neige ich dazu, mich vorab zu informieren, und bin dankbar, wenn ich an den Erfahrungen Dritter teilhaben darf, die mich ermutigen und befähigen. Aber ich will selbst entscheiden, wann ich mir Rat hole, wofür und wo. Ich will mich nicht mehr ungefragt von Ratschlägen erschlagen lassen.
Gesundheits-, Schönheits- und Jugendwahn sind Lebenslügen, Suchtmittel, Götzen. Warum nur will ich mit aller Macht mein Leben verlängern? Steckt dahinter Kleinglaube? Der Zweifel daran, ob jenes noch unsichtbare, aber ewige Leben wirklich besser ist als dieses sichtbare, aber endliche? Unendlich, und unendlich viel schöner? Nagt die alte Frage der Schlange an der Seele: Sollte Gott wirklich gesagt haben … Dann nehme ich lieber mit dem Spatz in der Hand vorlieb. Und während ich mein Denken und Tun ausrichte auf all die Richtigkeiten, die andere mir vorschreiben, verhalte ich mich wieder wie zu der Zeit, als ich noch nicht an Gott glaubte und Alles-richtig-Machen eine Art Ersatzreligion war.
Schlimmer noch als mein Kleinglaube ist mein privater Größenwahn: Beim Versuch, alles richtig zu machen, verfalle ich der Illusion des Machbarkeitsdenkens. Wer viel investiert, hat mehr Spatzen in der Hand. Aus Angst vor Krankheit und Tod beuge ich mich der Diktatur des Sollens – und mache damit mein Leben zu einer Krankheit. In Wirklichkeit kommt alles aus Gottes Hand, Spatzen und Tauben. So oft versuche ich, mein Leben zu meistern, und vergesse, dass es einen Meister gibt, der versprochen hat, meine Lasten zu tragen und mir Frieden zu schenken. Jesus kam, um uns frei zu machen von Sklaverei und Angst. Dietrich Bonhoeffer schrieb: »Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens, nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen, und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.«
Eine Welle von fröhlich aussehenden Motivationsbüchern voller Kapitel angeblich leicht nachahmbarer Heilsversprechungen strömt über uns hinweg. Seltsamerweise sind all diese propagierten Gewohnheiten, von denen ich glaube, dass ich sie haben sollte, elendig schwer einzuhalten. Sie erfordern jede Menge eisernen Willen. In der ratgebertechnisch sehr interessanten Phase der Lebensmitte angekommen, bin ich es aber allmählich satt, ständig meine innere Schweinehündin zu bekämpfen. Ich mag nicht mehr überwinden und besiegen. Ich will keinen Kampfplatz mehr aus meinem Leben machen. Wie sollte auch der Kampf gegen ein Tier, das ursprünglich als »Hund für die Saujagd« eingesetzt wurde, Spaß machen. Oder gar Freude … Gar nicht! Es ist ein mühsamer Alltagskleinkrieg ohne Aussicht auf Erfolg. Ich bin jedenfalls nicht sehr weit gekommen in all den Jahren des von den Medien angefeuerten Kampfes. Das Einzige, was ich erlebe ist, dass mein Istzustand dazu neigt, unter all den erkannten Sollzuständen zu bleiben.
Ich will gar nicht mehr ständig kämpfen müssen. Ich will auch sein dürfen. Ich will nicht einen Feldzug nach dem anderen führen, ich will die Waffen strecken, die Durchhalteparolen in den Wind schlagen. Ich hänge die weiße Fahne vor mein Fenster, rauche die Friedenspfeife mit mir selbst – obwohl Rauchen ungesund ist – und beschließe: Ich will mein Leben nicht mehr verlängern, ich will es vertiefen. Und: genießen. Trotz vieler trauriger Momente gibt es so viele Dinge, die einfach nur genossen werden wollen, nicht erkämpft.
Ich rufe ein neues Zeitalter aus: Die Zeit der Erlaubnisse! Ich sollte … ich sollte nicht … ich sollte … ich sollte nicht! Wenn ich als Kind glaubte, meiner Mutter befehlen zu können, was sie tun müsse, war ihre Standardantwort: »Gar nichts muss ich, nur sterben!« Und darin steckt nun wirklich ein Funke Wahrheit.
Eine echte Entscheidung findet in Zusammenarbeit von Herz und Kopf statt und hat Signalwirkung. Wie ein Netz, das man auswirft, fängt sich darin vieles ein, womit man nicht gerechnet hat. Ich beschließe: Wenn ich schon mit einer inneren Schweinehündin »gesegnet« bin, dann will ich sie nutzen und auf mein Machbarkeitsdenken ansetzen. Sobald ich ihm wieder auf die Spur komme, werde ich rufen: »Fass! Beiß!« und dann der Schweinehündin befehlen, es zu vertreiben. Ich will umdenken, dieses alte »Um-zu«-Denken abschütteln wie Staub von den Füßen, will rausschlüpfen aus diesem Denksystem wie eine Raupe aus zu enger Haut. Ich will leben, und zwar selbst!
An meiner Tür hängt ein Plakat. Darauf guckt mich sehr gelassen eine sehr alte Astrid Lindgren mit sehr vielen, sehr sympathischen Falten an und sagt: »Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.« Ha! Ich spüre einen Anfall gesunden Trotzes und schreibe mit dickem Stift weitere Du-darfst-Botschaften von Astrid Lindgren darunter: »Es gibt kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern!« »Die Welt ist voll von Sachen, und es ist wirklich nötig, dass sie jemand findet.« »Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.« Jawohl! Ich darf, kann und will!
Ich darf schwach sein und jammern!
Ich darf traurig sein und weinen!
Ich darf glücklich sein und auffällig laut lachen!
Ich darf tiefsinnig und leichtsinnig sein!
Ich darf Fehler machen und zu ihnen stehen.
Ich darf mich entspannen, mich zurückziehen, Nein denken und sagen.
Mein Körper darf sich verändern, altern, sterblich sein.
Ich darf begrenzt statt vollkommen sein.
Ich brauche mein Leben nicht durchzustrukturieren wie einen Betrieb, der perfekt funktionieren muss.
Ich will mich nicht fürchten.
Ich will meine Geborgenheit nicht im Machbarkeitswahn suchen, sondern im Vertrauen auf Gott, der mich liebt und mir Gutes gönnt.
Ich will meine Zeit genießen alle guten Tage meines Lebens lang.
Im Genuss der ungeschützten Sommerfrische eines Altweibersommers will ich, dass mir wunderschöne Lachfalten gedeihen!
Meinen Kindern wollte ich immer ein Bullerbü-Leben ermöglichen. Für sie ist es mir weitgehend gelungen, mich von der Diktatur des Sollens fernzuhalten. Ich erinnere mich an Vorgaben meiner Krabbelgruppenfreundinnen: Johannes soll Trompete lernen, um seine Koordinationsfähigkeiten anzuregen. In Tobias’ Zimmer hängt ein teures Klangspiel, um sein Kleinhirn zu stimulieren. Sandra geht noch vor dem Kindergarten zur musikalischen Früherziehung, zur Kunstmusikschule für Bambini, zum Früh-Sport, um ihr musikalisch/künstlerisch/sportliches Talent zu fördern …
Bei den Kindern habe ich es glücklicherweise geschafft. Mein Schutz war meine Liebe zu ihnen, und schon damals waren die Gedanken von Astrid Lindgren ein guter Leitfaden fürs Leben. Bullerbü war ein starkes Bild, das sich durch all die herrlichen Kinderbücher in mir festgeschrieben hatte. So sollten sie leben dürfen, wenigstens als Kinder, frisch, fromm, fröhlich und frei. Heute sind sie erwachsen und weder musikalische noch künstlerische oder sportliche Überflieger, aber sie haben die Gabe, ihr Leben zu genießen, sich an Kleinem zu freuen, liebevoll mit sich, alten und behinderten Menschen umzugehen, sich sowohl in andere einzufühlen als auch sich gesund abzugrenzen und zu staunen über Gottes Schöpfung.
Als unsere Mittlere einige Monate in Australien verbrachte und sich erkältet hatte, erlebte sie, wie sie von der Familie, wo sie gerade arbeitete und wohnte, verwöhnt wurde: Sie hatten im Freien eine Badewanne aus Holz. Darunter, in angemessenem Abstand, war eine Feuerstelle mit glühenden Kohlen. Nie wird sie die Nacht vergessen, als sie unter dem blankesten Sternenhimmel, den sie je gesehen hatte, mitten im Regenwald auf einem Berg im Garten dieser Farm im Freien in der Holzbadewanne voller Milch, Honig und Regenwasser lag, den Geräuschen im Urwald lauschte, in den Himmel blickte und hinunter ins Tal.
Ich sehe alte Fotos von meiner Oma an, erinnere mich lächelnd an ihren ruhigen Glauben, ihre unkomplizierte Kittelschürzenschönheit, ihre leiderprobte Gelassenheit sowohl dem Leben als auch dem Sterben