in der Grundschule, kurz nachdem das mit Dir war, hab ich irgendwie den Faden verloren ...
In der neuen Klasse war ich auf einmal der Loser. Von da an hab ich mich dann irgendwie bewusst ins Abseits gestellt, damit ich meine Ruhe hatte ... Und jetzt ist das eben meine Position geworden. Wie beim Fußballspiel. Da steh ich ja auch immer im Abseits – nee, kleiner Scherz. Aber da hat ja auch jeder Spieler seinen Bereich. Und ich steh eben im Tor. Falls ich überhaupt eingewechselt werde.
Ich hoffe, Du machst Dir keine Sorgen, wenn ich das alles so schreibe, und denkst, ich bin hier total alleine. Ich weiß sowieso – Du machst Dir immer gleich Sorgen. Ich erinnere mich noch daran, wie wir zusammen Fernsehen geguckt haben: Du warst immer ganz aufgeregt, sogar bei irgendwelchen Kinderfilmen, die wir schon zigmal zusammen gesehen haben. So aufgeregt, dass ich Dir manchmal vorher ins Ohr geflüstert habe, wie es ausgeht, damit Du kein Nasenbluten kriegst oder so.
Deswegen sage ich das jetzt lieber auch gleich: Mach Dir keine Sorgen, wenn Du das hier liest. Wenn ich das hier an Dich schreibe, dann bin ich ja schließlich noch da, und außerdem bin ich ja die Hauptfigur der Geschichte – ich will jetzt nicht sagen der Held oder so. Aber die Hauptfigur, die bleibt der Geschichte ja meist bis zum Schluss erhalten.
Also. Ich schreib einfach in den Fragebogen, was mir in den Kopf kommt. Mal sehen, ob mir noch zu helfen ist ... Glaub ich zwar nicht, aber O.k. An mir soll’s nicht scheitern ...
»Ich will Anzüge tragen, das stell ich mir irgendwie vor, aber nicht in der Bank arbeiten. Ich würde gerne auch handwerklich tätig sein, etwas richtig bauen oder herstellen, aber nicht nur rackern. Im Büro sitzen, aber auch draußen unterwegs sein. Manchmal habe ich gerne mit Menschen zu tun, wenn sie nicht so viel reden und ich auch mal meine Ruhe haben kann. Ich will etwas tun, woran ich glaube, etwas, das für die Menschen wichtig ist, und einen sicheren Arbeitsplatz, nix, was nächstes Jahr abgeschafft wird. Und ich will immer gerne einen Abschluss. Etwas, das auch Mal zu Ende geht, wo man sich das Ergebnis angucken kann.«
So. Gibt es das?
3 ungeahnte perspektiven
Ich sitze jetzt direkt vor der Tür des Besprechungszimmers auf einer Holzbank. Über der Tür hängt so ein Motivationsposter: eine glückliche Blondine mit Bäckermütze, ein cooler Typ mit Zahnspange und Schraubenschlüssel in der Hand und ein anderer mit Strähnchen im Haar, der einen Pinsel schwingt. Darüber steht: »Mach’s richtig«. Jemand hat die Schrift als Sprechblase umrandet und was dazugekrakelt, sodass der Kfz-Mechaniker jetzt zum Maler mit Pinsel sagt: »Ich mach’s Dir richtig«. Die Bäckerblondine hat einen Schmollmund und eine Krokodilsträne abbekommen.
An mir vorbei laufen die ganzen erwachsenen Arbeitslosen, aus dem anderen Gebäudetrakt. Mit fahlen Gesichtern und irgendwelchen Blättern zum Ausfüllen in den Händen. Die sind hier nicht zum Spaß. Das macht einem ganz schön Angst. Hier will ich nicht noch mal hin.
Sarah sammelt die Bögen ein, und vielleicht hab ich mich auch geirrt, aber ich glaube, sie hat mir zugezwinkert. Unter ihrem weißen T-Shirt zeichnet sich ihr Busen ab. Ich kann nicht genau erkennen, ob sie einen BH trägt.
(Sorry. Das schreibe ich jetzt hier wie im Tagebuch, O.k. Weil ich mir eigentlich doch nicht vorstellen kann, dass Du das liest. Vielleicht streich ich es auch nachher, sicherheitshalber. Aber jetzt lass ich es erst mal so stehn.)
Ich frag mich auf einmal – warum auch immer –, wie alt man als Referendarin so ungefähr ist. Paul sagte mir vorhin auf dem Klo, alle reden heute über sie, alle gucken ihr auf die Titten (hat Paul so gesagt). Dann ging die Tür auf der Jungstoilette auf, sie stand da und meinte trocken, sie habe keine Lust, sich hier zum Affen zu machen und allen hinterherzulaufen. Die Jungs sollten jetzt die Bögen ausfüllen oder gleich nach Hause gehen. Oder sich mal drüben angucken, wie es aussieht, wenn man hier regulär anstehen muss. Weil man keine andere Chance hat. Da sind dann alle rausmarschiert und haben brav zum Stift gegriffen. Die nimmt das nicht so hin wie Frau Frevert. Das gefällt mir.
Sie kommt hier aus Schönburg, direkt neben Schwarzbeck, ist nach dem Abi nach Berlin gegangen. Zum Studieren. Und jetzt ist sie anscheinend wieder da. Seine Schwester kennt sie noch. Die hat inzwischen zwei Kinder und ist verheiratet. Pauls Schwester ist jedenfalls 25.
Ich werd reingerufen. Ein Raum mit Topfpflanze auf dem Fensterbrett, bunten Mallorca-Postkarten, die mit Tesafilm an den Spanholzschrank gepappt wurden, und einem Katzenbildschirmschoner, der auf dem Computer flimmert. In diesem Raum entscheidet sich also meine Zukunft.
Die Arbeitsamtsberufsberaterin wendet sich förmlich an mich: »Tom. Erst einmal möchten wir uns bei Ihnen bedanken, dass Sie den Bogen so konkret ausgefüllt haben. Bei so vielen Details ist es uns sehr leichtgefallen, ein passendes Berufsprofil zu erstellen.«
Sie lächelt mich motivierend an. Ich bin ein offenes Buch. Ich bin verblüfft. Genau das hab ich mir erhofft. Aber warum krieg ich dann jetzt Angst?
»Der Beruf, den wir für Sie entdeckt haben, wird Ihnen vielleicht erst mal nicht so viel sagen. Er ist auch erst seit wenigen Jahren ein anerkannter Ausbildungsberuf ... Die Empfehlung hat natürlich nichts mit Ihrem äußeren Erscheinungsbild zu tun, keine Sorge, sondern besonders mit den Ausführungen und Wünschen, die Sie uns haben zukommen lassen. Ich gebe Ihnen hier mal das Tätigkeitsprofil, damit Sie sich etwas darunter vorstellen können ... Aber kriegen Sie keinen Schreck. Das ist ein ganz normaler Beruf.«
Sie reicht mir einen Bogen. Ich linse auf die Überschrift, bin auf alles gefasst.
Auf fast alles.
Bestattungsfachkraft
Die Ausbildung zur Bestattungsfachkraft ist in Deutschland seit dem 1. August 2003 möglich. Die Ausbildungsdauer beträgt 3 Jahre und wird in Bestattungsinstituten und in Friedhofsverwaltungen durchgeführt. Die praktische Ausbildung wird im Betrieb durchgeführt und umfasst unter anderem die Bergung, Überführung, Versorgung, Einkleidung und Einbettung von Verstorbenen. Grabtechnik, Warenkunde, Dekoration, Beratungsgespräch und Trauerpsychologie werden in zwei überbetrieblichen Lehrgängen im Bundesausbildungszentrum der Bestatter in Münnerstadt gelehrt.
Im kaufmännischen Teil der Ausbildung werden das Beratungsgespräch mit den Angehörigen, die Organisation, Planung und Kontrolle der Bestattung, die Kalkulation und Rechnungslegung, aber auch die Beurkundung eines Sterbefalls beim Standesamt sowie alle nach einem Sterbefall abzuwickelnden Formalitäten vermittelt. Dazu gehören zum Beispiel das Abmelden eines Verstorbenen bei den Krankenkassen und den Rentenversicherungen.
Puh. Puh. Die Worte verschwimmen vor meinen Augen.
»Tom?«
»Tom, hallo, alles O.k.? Das ist ja erst mal nur eine Empfehlung. Du kannst ja auch was anderes machen. Aber das hat so gut gepasst, ist abwechslungsreich und«, Sarah reicht mir noch zwei ausgedruckte kleine Zettel, »ich hab auch schon zwei Ausbildungsplätze entdeckt hier in der Umgebung, wo du dich noch bewerben könntest für dieses Jahr.«
Ich nicke. Na, dann passt ja alles perfekt.
»So, wer ist als Nächstes dran?«, fragt die Dame von der Berufsberatung schon und drängt mich hinaus.
Draußen fragen Paul und Max gleich: »Und, na, was wirst du jetzt?«
Ich sage nix. Das kann man doch keinem erzählen. Auch Papa nicht. Schon gar nicht. Der denkt dann gleich wieder, mit mir stimmt was nicht, wenn die mir hier so was empfehlen.
Bevor ich zurückfahre, geh ich lieber in Kiel noch ins Solarium. Zum Sonnenstudio Palme. Ich habe in letzter Zeit ganz schön Augenringe. Vielleicht hat es auch daran gelegen ...
Solarium hab ich auch von Mike gelernt. Ohne ihn wäre ich doch niemals ins Solarium gegangen. Schon allein wegen dem Krebs. Erst habe ich immer draußen vor der Kabine gewartet, bis er fertig war, hab ihn sogar aufgezogen damit, aber dann wollte ich es irgendwann doch ausprobieren. Ich mag eigentlich gar nicht mal am liebsten daran, wie ich danach aussehe, das ist mir fast egal, ich finde am besten, wie schön warm es dort ist.
Ich stell mir dann immer vor, ich wäre verreist.