Eckart zur Nieden

Rebekkas Tagebuch


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nicht. Elisabeth hat eine schon etwas brüchige Stimme, aber sie scheint musikalisch zu sein, denn sie trifft alle Töne sauber und hat keine Mühe, etwa einen oder zwei Töne höher oder tiefer anzustimmen, wenn sie merkt, dass sie an den Rand ihres Stimmumfangs kommt. Obwohl es kein Genuss im ästhetischen Sinne ist – sie denkt vermutlich beim Singen gar nicht an die Zuhörer über sich –, lege ich mich dann gern im Heu zurück und lausche auf ihren Gesang. Auch Aaron scheint von dieser schlichten Ungezwungenheit ihres Singens berührt zu sein und hört still zu. Schmunzelt nur zwischendurch, wenn Elisabeth mit einer der Kühe redet.

       Als sie zum ersten Mal eine Kuh mit ihrem Namen ansprach – es sind alltägliche Mädchennamen wie Lisa oder Erna –, bekam ich einen Schreck, weil ich dachte, eine Frau sei mit im Stall. Inzwischen kenne ich alle sechs Kühe mit Namen.

       Heute war Ludwig bei uns. Er wollte sich für unsere Hilfe bedanken. Ich dachte erst, er wollte einen Scherz machen. Aber nein, er meinte es ernst. Aaron dankte ihm, dass wir die Möglichkeit hatten, ein wenig zu helfen und so wenige Promille von der Schuld abzutragen, in der wir bei ihm stehen.

       Wir haben uns über Politik unterhalten. Er schilderte uns, wie es mit dem Krieg steht. Deutsche Luftangriffe sollen England in die Knie zwingen. Das scheint aber nicht zu gelingen, so wie Hitler sich das gedacht und Göring es ihm versprochen hat. Ludwig scheint darüber nicht traurig zu sein. Im Radio würde auch immer von den Erfolgen der U-Boote berichtet, die die britische Handelsblockade um Deutschland knacken und England vom weltweiten Handel aussperren sollen. Ich stelle mir das schrecklich vor. Da werden Handelsschiffe einfach versenkt mit allen Menschen an Bord. Aber auch für die U-Boot-Besatzungen wird es kein Vergnügen sein. Sie leben auf noch engerem Raum als wir hier.

       In Afrika, wo ein deutsches Afrikakorps die Italiener unterstützt, unter Führung eines gewissen Rommel, soll es große Erfolge geben.

       Ludwig erzählte uns von zwei jüdischen Familien, mit denen er bekannt gewesen war. Sie sind plötzlich verschwunden. Die eine schon vor zwei Jahren, die andere erst kürzlich. Ich hatte den Eindruck, er wolle damit seine Mahnung unterstreichen, wir sollten ja nicht unser Versteck verlassen. Aber das haben wir auch nicht vor. Eine Warnung war nicht nötig, wir kennen die Gefahr und verdrängen sie nicht mehr.

       So kamen wir allgemein auf das Thema der Juden in Deutschland zu sprechen. Aaron sagte zu Ludwig: „Ich weiß, dass du kein Antisemit bist. Aber wie ist genau deine Einstellung zu den Juden?“ Ich fand die Frage ein bisschen aufdringlich, aber da denkt Aaron anders als ich.

       Ludwig dachte einige Augenblicke nach – sicher nicht, um zu überlegen, wie er in der Sache dachte, sondern um die richtigen Worte zu finden, es zu erklären. Dann meinte er: „Es gibt nicht den geringsten Grund, Juden zu verachten, denn es sind Menschen wie wir Deutschen. Und wenn manche glauben, Gründe zu haben, dann sind die vorgeschoben. Vorgebracht werden diese Gründe, weil man vor sich selbst rechtfertigen muss, was man ihnen antut. Und warum tut man es ihnen an? Weil man einen Sündenbock braucht. Ein Ausdruck, der, wie ihr sicher wisst, aus dem Alten Testament stammt. Man braucht jemanden, den man für jede Misere verantwortlich machen kann. Das erleichtert. Es erspart den Menschen, Fehler bei sich selbst zu suchen.“

       Er schwieg eine Weile, und Aaron nickte. Dann fuhr Ludwig fort: „Das sage ich als Mensch. Aber als Christ sage ich noch etwas anderes. Die Juden sind Gottes Volk. Das sind sie auch, nachdem die meisten nicht bejahen, dass Gott sich mit seinem Sohn auf eine ganz neue Weise gezeigt hat. So hat es Paulus geschrieben, im Römerbrief. Ich weiß nicht, was das im Einzelnen bedeutet, weiß auch nicht, was Gott noch mit seinem Volk vorhat. Weiß auch nicht, wie das viele Leid, das die Juden erleiden mussten und müssen, damit zu vereinbaren ist. Aber Tatsache bleibt es, dass sie ‚Gottes Augapfel‘ sind. Denn so steht es geschrieben.“

       „Manche Christen bekämpfen die Juden, weil sie sagen, sie seien die Christusmörder“, wandte Aaron ein.

       „Unsinn! Es waren heidnische Römer, die Christus gekreuzigt haben. Juden waren auch beteiligt, sicher. Aber nicht das ganze Volk. Letztlich schuld am Tod Jesu am Kreuz sind alle Sünder, denn ihretwegen ist er als Mensch erschienen und hat den Tod auf sich genommen, als Sühne.“

      „Ich weiß, dass die Christen das lehren“, sagte Aaron, und er klang dabei etwas unwillig. Ludwig wird das nicht bemerkt haben, weil Aaron natürlich unseren freundlichen Helfer nicht angreifen wollte, aber ich, der ich meinen Mann seit langem kenne, hörte es wohl. Er fuhr fort: „Die Nazis sehen das leider nicht so wie du. Es ist ja ein furchtbarer Hass, den sie uns gegenüber haben. So fanatisch, dass mir scheint, die Erklärungen, die du gerade gegeben hast, reichen nicht aus, ihn zu begründen.“

       „Manche Nazis brauchen auch keine logische Begründung für ihren Hass. Sie freuen sich nur, wenn sie irgendwo draufhauen können, statt ihren Ärger nur runterzuschlucken. Sie freuen sich, wenn sie sich irgendjemandem gegenüber besser und stärker fühlen können. Da kommen sie sich heldenhaft vor. Überhaupt – Stärke zu beweisen scheint die neue Religion in unserem Land zu sein.“

       Aaron nickte. „In unseren Heiligen Schriften, die zum Teil euer Altes Testament sind, wird von Lamech erzählt. Ich habe noch vor einigen Wochen über ihn gelesen. Der erfand am Anfang der Menschheitsgeschichte das Schwert. Und dadurch fühlte er sich stark genug, sich siebenfach zu rächen. Einen Mann zu töten, wenn der ihm nur eine Beule beigebracht hat. So denken viele heute.“

       „Genau so denken die Ideologen der neuen Zeit“, bestätigte Ludwig. „Man könnte die Nationalsozialisten Lamechbewegung nennen. Nur hat man heute keine Schwerter, sondern Panzer und U-Boote und Flugzeuge.“

       „Aber Gott hat dieser Denkweise sein Gebot entgegengestellt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Strafe soll nicht über die Tat hinausgehen. Rache darf nicht maßlos werden.“

       „Und Jesus ging noch weiter“, sagte Ludwig. „Wenn dich jemand auf die eine Backe schlägt, halte ihm die andere auch noch hin. Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen.“

       Aaron lächelte. „Aber du tust uns nicht wohl, weil du uns hasst, nicht wahr? Scherz beiseite – ich kenne nicht viele Christen, die mit solchem Handeln beweisen, dass sie das Wort von Jesus ernst nehmen.“

       „Leider.“

       „Und wegen dieses Liebesgebotes, das kaum jemand beachtet, glaubst du, das Christentum sei wertvoller als das Judentum?“

       „Wertvoller? Ich weiß nicht, was ich mir darunter vorstellen soll. Ich möchte so sagen: Das eine ist eine Weiterführung des anderen. Eine Steigerung. Ein Schritt weiter in der Geschichte Gottes mit den Menschen.“

       „Aber du verachtest uns und den Glauben der Juden trotzdem nicht?“

       „Jesus sagte – das steht bei Johannes: Das Heil kommt von den Juden.“

       Es wunderte mich, dass ein solcher Satz im Neuen Testament stehen sollte, aber ich sagte nichts dazu, wusste ich doch, dass meine Kenntnis dieser Dinge äußerst mangelhaft war.

       Ich habe hier versucht, das Gespräch möglichst genau festzuhalten. Aber natürlich kann ich mich nicht mehr an jeden einzelnen Satz erinnern. Sinngemäß lief aber unser Gespräch so ab.

       Aaron und ich haben uns dann noch ein wenig über das Thema unterhalten, kamen aber nicht wesentlich weiter, weil wir über den christlichen Glauben nicht genug wussten. Es war uns nur geläufig, was zur Allgemeinbildung gehört. Wir hatten aber den Eindruck, damit nicht bis zum Kern vorgedrungen zu sein. Im Übrigen wussten wir über unseren eignen Glauben auch nicht genug.

       Gestern hörten wir lautes Reden unten im Hof.

       Wir können durch einen kleinen Schlitz zwischen den Dachziegeln hinuntersehen. Allerdings können wir nicht den ganzen Hof mit einem