sind physisch ausgelaugt.
Eine andere Art von Tragödie spielt sich ab im achtzig Kilometer entfernten Grenzort Tiné. In der Hoffnung auf Wasser und Lebensmittel kampieren Abertausende von Flüchtlingen außerhalb der Stadt, inmitten von Exkrementen und Müll. Der Gestank ist unerträglich, und die wie eine Wok-Pfanne gewölbte Hochebene ist, soweit das Auge reicht, mit Tierkadavern übersät, Esel zumeist, die in der Gluthitze verwesen, während zu Skeletten abgemagerte Rinder und Ziegen an Plastiktüten herumknabbern. Die toten Tiere werden eingesammelt und verbrannt; Schakale und Hyänen lebten nur im Süden des Tschad, sagt Issah, unser Chauffeur, und für Geier sei die Wüste zu heiß. Eine Mutter mit rotznäsigem Kind auf dem Arm – sein rot verfärbtes Haar deutet auf Mangelernährung hin – erzählt, die letzte Essenszuteilung habe Ende März stattgefunden, und zum Wasserholen müsse sie fünf Stunden durch die Savanne laufen, nachts, wenn Schlangen und Skorpione unterwegs sind – tagsüber sei der Fußmarsch zu anstrengend. Das Wasser ist verschmutzt, und um den Hunger der Familie zu stillen, muß sie Wurzeln und Wildfrüchte kochen, die Magenbeschwerden und Durchfall verursachen. Ein paar hundert Meter weiter liegt die neuerbaute Luxusvilla des Staatspräsidenten Idriss Déby, der von hier aus seinen Siegeszug antrat zur »Befreiung« des Tschad; schräg gegenüber eine aufwendig renovierte Moschee, deren Mullah sich nicht um seine Glaubensbrüder kümmert und die Versorgung der Flüchtlinge westlichen Hilfsdiensten überläßt. Dabei ist der Bürgerkrieg in Darfur, dessen Gefechtslärm nachts nach Tiné herüberdringt, kein Religionskonflikt wie im Südsudan, weil alle Beteiligten Moslems sind.
Sechzig Kilometer weiter nördlich, in Bahai, ist ein einziger Arzt für die Versorgung Tausender Flüchtlinge zuständig, von denen viele zu entkräftet sind, um den Weg zur Krankenstation zu schaffen. Camilo Valderrama, 47, kommt aus Kolumbien, hat vorher in Liberia gearbeitet und ist seit zwei Monaten hier: »30 Prozent der Vertriebenen sind unterernährt, 50 Prozent haben Durchfall, und wir beseitigen jeden Tag über hundert Tierkadaver«, sagt der Arzt am Ende der Welt, der nur über einen begrenzten Vorrat an Medikamenten verfügt und den Flüchtlingsfrauen die elementarsten Regeln der Gesundheitsvorsorge vermitteln will: Trennung von Gesunden und Kranken, Händewaschen und elementare Hygiene – ohne sauberes Wasser ein frommer Wunsch. »Warum hat sich die Sterberate im letzten Monat verzehnfacht? Was war die häufigste Todesursache?«, fragt Camilo die im Schatten eines Pavillons wartenden Frauen, während ein sudanesischer Lehrer seine Worte auf arabisch übersetzt. »Wasser ist Gold, und sauberes Wasser ist ein Diamant«, erläutert er und zündet sich eine Zigarette an. Camilo ist Kettenraucher, und nur durch ständige Zufuhr von Nikotin erträgt er das Elend hier. Weiter nördlich, in Cariari, sei es noch schlimmer, weil niemand sich um die Versorgung der Flüchtlinge kümmere. Auf der Fahrt dorthin hat er eine im achten Monat schwangere Noamdenfrau in der Savanne aufgelesen; ohne sein Eingreifen wäre sie jetzt schon tot. Djamila ruht unter einer dünnen Decke im Schatten der Krankenstation, und beim Anblick des Arztes versucht sie vergeblich, sich aufzurichten. »Ein schwerer Fall von Anämie«, sagt Camilo, während sie stöhnend auf ihr Lager zurücksinkt. »Djamila wird ihr Baby verlieren, und ich bin nicht sicher, ob sie überlebt!«
Letztes Bild, bei der Abfahrt aus Tiné: Ein sterbender Esel in der Wüste. Er wendet mühsam den Kopf zu dem Auto, das neben ihm hält; ein Beben durchläuft die zum Gerippe abgemagerte Brust, und er ist tot.
P.S.: »Vor den Menschen sterben die Tiere«, sagt Pater Joël, der uns in seinem Haus in Abéché empfängt – das erste Essen seit Tagen, das nicht nur aus Wasser und Biskuits besteht. Der Jesuitenpater betreut versprengte Christengemeinden an der 1 500 Kilometer langen Ostgrenze Tschads, hat Freunde unter den Mullahs und wird von seiner muslimischen Umgebung respektiert. »Schreiben Sie auf, was Sie gesehen haben, und sagen Sie die Wahrheit über die Flüchtlinge! Kürzlich war eine hochgestellte Persönlichkeit hier, deren Namen ich nicht nennen darf, denn der Mann ist Christ. Er behauptete, es gebe kein Flüchtlingsproblem in Darfur!«
Vielleicht meint Pater Joël den Botschafter eines mit der Bundesrepublik befreundeten Landes, der mich in N’djamena ins Gebet genommen hat. Er hielt einen druckreifen Vortrag über die geopolitische Bedeutung Sudans als größter Flächenstaat Afrikas, am Kreuzungspunkt von Anglophonie und Frankophonie, arabischen Ölstaaten und fundamentalistischem Islam. Da diese angeblich christlich sei, unterstützten die USA seit Jahren John Garangs Rebellenarmee, die Demokratie nur für Nordsudan fordere, im Süden aber diktatorisch regiere. In Wahrheit gehe es um Ölvorkommen und Bodenschätze, die nicht bloß im Südsudan, sondern auch in Darfur vermutet werden: Deshalb die von Washington angestrebte Internationalisierung des Konflikts mit dem Fernziel der Aufteilung des Sudan. Eine perfekte Verschwörungstheorie, die nur einen Schönheitsfehler hat: Die ethnische Vertreibung aus Darfur ist keine Erfindung von CNN, es gibt sie wirklich.
Die vom amerikanischen Delegationschef in Genf gezogenen Parallelen zu Ruanda und Kambodscha waren und sind irreführend und falsch – ich darf dies sagen, denn ich habe die Auswirkungen beider Genozide vor Ort erlebt. Aber das ist kein Trost für die Flüchtlinge aus Darfur, denen das Schlimmste erst noch bevorsteht, wenn die Regenzeit beginnt. Ein anderer historischer Vergleich macht mehr Sinn: Im Herbst 2004 begeht Namibia den hundertsten Jahrestag des Herero-Aufstands, der mit einem Massensterben endete. Nach der Schlacht am Waterberg wurden die Hereros in die Omaheke-Wüste abgedrängt, wo ein Drittel des Nomadenvolks – 30.000 Männer, Frauen und Kinder – an Hunger und Durst zugrunde ging: »Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit und ohne Vieh erschossen!« Der Ausrottungsbefehl des berüchtigten Generals von Trotha paßt zur Politik der verbrannten Erde in Darfur, wo das Baschir-Regime sich wie eine Kolonialmacht gebärdet – die Knechtung der Schwarzafrikaner hat im Sudan eine unselige Tradition. Aber in einer anderen Hinsicht gebe ich dem europäischen Diplomaten recht: Washingtons Frontstellung gegen den französischen Einfluß in Afrika ist kurzsichtig und kontraproduktiv, denn die auf einer kulturellen Symbiose beruhende Frankophonie ist ein festeres Bollwerk gegen islamischen Fanatismus und Terrorismus als der American Way of Life, der, wie derzeit im Irak, nur Öl ins Feuer gießt.
Besser als die schrille Menschenrechtsrhetorik der Gegenwart es vermag, hat der Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger André Gide das Problem auf den Punkt gebracht, als er in seinem Reisebericht aus Kongo und Tschad 1927 schrieb: »Die durch mein Buch geweckte Aufmerksamkeit wird bald wieder einschlafen: Bis zu dem Tag, an dem ein anderer Reisender, wie ich von der verrückten Idee angetrieben, sich anzusehen, was dort unten geschieht, neue Machtmißbräuche aufdeckt, ähnliche Abscheulichkeiten anprangert und der Öffentlichkeit zu verstehen gibt, daß sich an diesen Mißbräuchen außer dem Etikett, mit dem man sie bemäntelt, nichts geändert haben wird.«
Der widerlichste Beutezug
der Geschichte
Auf Spurensuche zu Joseph Conrads
»Herz der Finsternis«
Was für ein Roman! Dabei ist Heart of Darkness gar kein Roman, sondern eine Erzählung, genauer gesagt eine Rahmenerzählung, auf halbem Weg zwischen Novelle und Reisebericht. Die Unbestimmtheit der Gattung hat sie mit einem anderen Meisterwerk der frühen Moderne gemein, dessen Inhalt so übermächtig ist, daß die Frage nach der Form unerheblich wird: Franz Kafkas In der Strafkolonie. Zwei grundlegende, nein grundstürzende Texte der europäischen Literatur, die beide den Imperialismus thematisieren, in dessen Hoch-Zeit – vor dem Ersten Weltkrieg – sie entstanden sind, und die beide in Kolonialgebieten spielen: Conrads Erzählung am Oberlauf des Kongo und die Kafkas in einer nicht näher bezeichneten Strafkolonie, hinter der sich, wie neuere Forschungen gezeigt haben, das Pazifikterritorium Neukaledonien verbirgt, neben Cayenne, wo Hauptmann Dreyfus seine Strafe verbüßte, Frankreichs wichtigster Deportationsort.1
Die Jahre vor 1914 waren auch die Inkubationszeit des Kubismus, bei dessen Entstehung afrikanische Masken und Skulpturen aus Ozeanien Pate standen, die Picasso und Braque im Pariser Musée de l’homme bewunderten. Schon vorher war Paul Gauguin nach Tahiti emigriert; Max Pechstein und Emil Nolde reisten in kaiserlich-deutsche Kolonien im Südpazifik, wo sie sich von der als primitiv gescholtenen Kunst der Inselbewohner zu einem Malstil inspirieren ließen, der Naturmystik mit unverstellter Sexualität