Nina Käsehage

Dschihad als Ausweg


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Bevölkerungsangehörige das Land verließen.65 Der gemäßigte erste Präsident der tschetschenischen Republik Itschkeriya, Dshochar Dudajew,66 wurde zum Anführer der »tschetschenischen Revolution« und leitete die »neue« Republik von 1992 bis zu seinem Tod durch eine Zielsuchrakete im April des Jahres 1996.67 Zuvor war er in der sowjetischen Luftwaffe bis zum Generalmajor aufgestiegen und hatte Russland bis zu dessen Okkupationsversuch stets freundlich gegenüber gestanden.68

      Im Kontext der Revolution des Jahres 1991 ereignete sich auch ein gesellschaftlicher, tschetschenischer Umschwung, bei dem die »tschetschenische Intelligenzija«, beeinflusst von gesellschaftlichen Randfiguren mit radikalen Tendenzen, einen weniger sachlich fundierten, jedoch aggressiveren politischen Kurs anstrebte, wie Politkovskaja konstatiert:

      »Die ökonomische Führung fiel an Menschen, die nicht wussten, wie man eine Wirtschaft leitet. Die Republik war wie im Fieber, übte sich in endlosen Meetings und Demonstrationen, während das tschetschenische Erdöl still und heimlich in unbekannte Richtung abfloss. Als Folge dieser Ereignisse begann im November-Dezember 1994 der erste Tschetschenien-Krieg.«69

      Die russische Strategie, die unterschiedlichen teips gegeneinander auszuspielen, schlug fehl, da diese sich stattdessen verbündeten, und das gemeinsame tschetschenische Nationalbewusstsein kulminierte. Infolgedessen wurden den russischen Truppen zahlreiche Verluste während der Gefechte im Zuge des Sturms auf Grosny von tschetschenischen Einheiten beigebracht.70 Nach vier Monaten andauernder Kämpfe war die Stadt stark zerstört, und der Krieg erstreckte sich über das ganze Land.71 Im Jahr 1996 gab es auf russischer sowie auf tschetschenischer Seite über 200 000 Opfer zu beklagen.72 Mitte des Jahres 1996 reiste der Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, General Alexander Lebed,73 nach Tschetschenien, um ein Ende dieses Krieges mit den Tschetschenen auszuhandeln. Im August 1996 kam es zu einem Friedensschluss in Form einer politischen Artikulation, der Chassawjurt Erklärung74, sowie der Aushandlung von »Prinzipien für die Bestimmungen der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Tschetschenischen Republik«, welche einen Status der »Nicht-Kriegszeit« für fünf Jahre festlegte und von Lebed und Maschadow, Dudajews früherem Generalstabschef, unterzeichnet wurde.75 Die russischen »Förderations-Streitkräfte« waren mit Chassawjurt nicht zufrieden, da dieser Vertrag sie ihrer Ansicht nach daran hinderte, »die Sache zu beenden und sie stattdessen öffentlich demütigte«.76

      Nach dem ersten tschetschenisch-russischen Krieg, bei dem Russland schwere militärische Niederlagen erfahren und in der Folge Reparationsleistung an Tschetschenien zugesichert, jedoch nie gezahlt hatte77, erstarkte eine wahabitisch geprägte Religionsgemeinschaft in Tschetschenien, die von dem saudischen Omar Ibn al-Chattab78 angeführt wurde und die tschetschenische Bevölkerung mit Geld und extremistischer Ideologie vereinnahmte79, die u. a. den kriegerischen Dschihad als ehrbare Aufgabe und die Gemeinschaft der Wahabiten als bedeutsamer als den Zusammenhalt der traditionellen teips, der tschetschenischen Klan-Struktur, postulierte.80

      Dudajews Nachfolger wurde Anfang des Jahres 1997 Aslan Maschadow,81 Dudajews früherer Generalstabschef und ehemaliger Oberst der sowjetischen Armee.82 Im Mai 1997 unterzeichnete Maschadow einen »Vertrag über Frieden und die Prinzipien friedlicher bilateraler Beziehungen«83 mit Jelzin.84 Weitere Friedensbeziehungen wurden jedoch von verschiedenen, untereinander verfeindeten, militärischen Anführern85, darunter u. a. Schamil Bassajew86, ein radikal-islamischer Fundamentalist, gestört. Dieser nutzte den verzögerten staatlichen Strukturaufbau und die damit verbundene, desolate Situation der Bevölkerung in Tschetschenien mit Hilfe saudischer Geldgeber und wahabitischer Gelehrten dazu, um die zunehmende Perspektivlosigkeit in Kriminalität und radikal-islamischen Terrorismus zu kanalisieren.87 Bassajew ist in Bezug auf seine inkonsistente Loyalität als eine schillernde Persönlichkeit zu bezeichnen, da er sowohl mit Dudajew Seite an Seite in der sowjetischen Armee gekämpft hatte, Feldkommandeur im tschetschenischen Widerstand während des ersten tschetschenisch-russischen Kriegs war, jedoch zugleich vom russischen Auslandsgeheimdienst, Hauptverwaltung Aufklärung (GRU) des Generalstabs der Russischen Föderation, ausgebildet und als Söldner der Abchasen, die vom Kreml protegiert wurden, im Georgisch-Abchasischen Krieg, der von 1993 bis 1994 stattfand, gekämpft hatte.88 Zudem zeichnet er für den 1995 organisierten Streifzug seiner Truppen in Richtung Budjonnnowsk verantwortlich, bei dem sowohl Patienten als auch Personal eines Gebietskrankenhauses sowie eines Entbindungsheimes als Geiseln genommen wurden.89 Es kann demnach konstatiert werden, dass Bassajew und nicht Maschadow mit zivilen Geiselnahmen von sich reden machte und diese ohne zu zögern für seine politischen Zwecke einsetzte.90

      Am 23. Juni 1998 gab es einen Attentats-Versuch auf Maschadow, den dieser jedoch überlebte, und drei Monate später verlangten die Feldkommandeure, die von Bassajew angeführt wurden, der zu dieser Zeit Premierminister Tschetscheniens war, Maschadows Rücktritt und trieben das Land durch ihre Partikularinteressen selber fast in einen Bürgerkrieg.91 Selbst die Einführung der Schariats-Jurisdiktion zu Beginn des Jahres 1999, nach der eigenmächtig agierende Feldkommandeure öffentlich exekutiert wurden, konnten die Segregationsbestrebungen der einzelnen Gruppen nicht mehr unterbinden.92

      Zusammen mit Chattab93 unternahm Bassajew im Juli 1999 den Versuch, das Nachbarland Dagestan in den tschetschenischen Widerstand gegen Russland zu involvieren,94 indem beide mit ihren Truppen in die dagestanischen Siedlungen Sondak, Rachata, Bottlich und Ansalta im Gebirge sowie in die Täler Karamachi sowie Tschabanmachi vordrangen,95 was Putin im Oktober 1999 dazu veranlasste, russische Truppen nach Tschetschenien zu entsenden.96 Der nun beginnende, zweite tschetschenisch-russische Krieg97 wurde als »Kampf gegen den Terror im Nordkaukasus« deklariert98, was aufgrund der Vorgeschichte beider Länder als Kriegsgrund recht monokausal wirkte, obwohl zweifellos das Erstarken radikal-islamischer Kräfte eine tatsächliche Rolle im zweiten Krieg spielte, jedoch nicht ursächlich dafür war, sondern, wie zuvor beschrieben, als Folgeentwicklung aus dem ersten Krieg betrachtet werden kann, die Tschetschenien in desolate wirtschaftliche und soziale Verhältnisse zurückgeworfen und damit den Boden für wahabitische Extremisten bereitet hatte.99 Putin kultivierte als neuer russischer Premierminister seine Reputation als »eiserne Faust« gegenüber russischen Gegnern und wurde im März 2000 durch die Konstruktion dieses Images zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt. Obwohl er mehrfach die Möglichkeit gehabt hätte, den Krieg zwischen Tschetschenien und Russland zu beenden, beließ er es bei diesem lt. Politkovskaja auch unter der Voraussetzung, dass »ein Krieg Russlands im Kaukasus chronischen Charakter annehme, aufgrund von den folgenden fünf Vorteilen für Russland«100 dabei:

      (1)Um die oberen militärischen Ränge nicht zu verärgern, indem er militärische Artikulationsfläche schuf, auf der sie ihre Abzeichen, Auszeichnungen und Karrieren aufbauen könnten.

      (2)Um den mittleren sowie unteren militärischen Dienstgraden ihre von den Vorgesetzten legalisierten Diebeszüge in der Zivilbevölkerung als »zuverlässige« Nebeneinkunft zu gewährleisten.

      (3)Um beiden Gruppen die illegale Ausbeutung tschetschenischer Erdölförderung zur persönlichen Bereicherung weiterhin zu ermöglichen.

      (4)Um den von Moskau entsandten bzw. bestimmten tschetschenischen Verwaltern, die als »die neue tschetschenische Macht« bezeichnet werden, weiterhin deren persönliche Bereicherung aus den Budgetmitteln des tschetschenischen Wiederbaus zuzugestehen.101

      (5)Um aus PR-technischen Gründen den Kreml vor kritischen, innenpolitischen Fragen zur wirtschafts-politischen Entwicklung Russlands immer dann zu schützen, wenn die jeweiligen »Beweislagen« zu erdrückend zu werden drohten.102

      Maschadow musste aufgrund des russischen Übergriffs in den Untergrund fliehen, und Putin setzte im Juni 2000 Achmad-Hadshi Kadyrow103 als tschetschenischen Verwaltungschef ein.104 Die Tschetschenen betrachteten jedoch Maschadow nach wie vor als Präsidenten, während die Russen Kadyrow sen., der noch im Jahr 1994 Mufti von