Beate Vera

Ein Sommer in Berlin


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Kuh! Sagte ich ja bereits.

      An jenem Tag, der meinem Leben eine unerwartete Wendung gab, stand ich mit einem weiteren Schreiben von Hannos Anwalt in der Hand vor meinem Schlafzimmerspiegel, der einmal unser Schlafzimmerspiegel gewesen war. Was ich sah, war das fleischgewordene Versagen. Viel Versagen und viel Fleisch.

      Der Mai neigte sich dem Ende zu und hatte seinem Ruf als Wonnemonat alle Ehre gemacht. Berlin war in sattem Grün erstrahlt, die Temperaturen hatten sich auf rund 25 Grad eingependelt, und die Aussichten standen auf heiter bis sonnig. Mir war jedoch nicht nach Sommer zumute, während ich zurückblickte, denn die vergangenen neun Monate waren trostlos und düster gewesen.

      Hanno war neun Monate zuvor, im September, am Wochenende nach meinem vierzigsten Geburtstag, ausgezogen und hatte den Teppich unter meinen Füßen gleich mitgenommen. Ich hatte Dana Sroka, seine neue Marketingchefin, kennengelernt. Wie alle neuen Mitglieder seiner Führungsriege hatte er sie zum Abendessen zu uns nach Hause eingeladen. Wir verbrachten einen angeregten Abend miteinander. Dana lobte mein Essen überschwenglich und verglich es mit dem ihrer Kindheit. Ihre Eltern kamen aus Krakau und führten ein Restaurant in Charlottenburg. Ich fühlte mich geschmeichelt und fand sie sehr sympathisch. Sie bewunderte unseren Garten und die wunderschönen Rosenbeete, während sie sich ihr Chasuble aus Rohseide um die Schultern legte, weil es ein wenig zu kühl war abends. Sie war stilvoll, eloquent und begleitete ihre Ausführungen mit temperamentvollen Handbewegungen. Sie war eine wahre Augenweide.

      Die polnische Sexbombe spannte mir keine drei Monate später meinen Mann aus. Getrieben hatten sie es miteinander vermutlich bereits am Nachmittag jenes Tages, an dem sie uns abends besuchte. Auf dem Mahagoni-Schreibtisch in Hannos Büro.

      Hanno zog zu ihr. Während ich die Kinder in die Schule brachte, packte er die nötigsten Sachen zusammen. Meine Tränen ignorierte er bei seinem Abschied gekonnt. Im Flur drehte er sich noch einmal um und sagte beinahe beleidigt: »Trine, schau dich doch mal an! Du passt einfach nicht mehr zu mir. Du hattest doch nach Daniels Geburt genug Zeit, dich wieder auf Vordermann zu bringen. Ich werde auch nicht jünger und muss einfach mal an mich denken. Ich brauche eine junge, dynamische Partnerin an meiner Seite. Es kann dich doch wirklich nicht überraschen, dass mir Dana mehr zu bieten hat!« Die Tür bereits in der Hand, fügte er noch hinzu: »Ich lasse meine restlichen Sachen morgen abholen. Dann hast du genug Zeit, sie zusammenzupacken.«

      Die Haustür fiel mit dem lautesten Geräusch von Einsamkeit ins Schloss, das man sich vorstellen kann.

      Der Tag, an dem meine Welt zusammenbrach, war ein wunderbarer Spätsommertag. Die Luft war warm, die Vögel zwitscherten, und die Sonne strahlte vom Himmel. Es war ein Vormittag, der zu einem späten oder zweiten Frühstück auf der Terrasse einlud, ein Morgen wie in der perfekten Reklamewelt. Nur ich passte nicht hinein: Ich fror erbärmlich und klapperte mit den Zähnen, während ich versuchte, meinem Entsetzen über das, was gerade geschehen war, Einhalt zu gebieten. Nachdem Hanno fort war, lief ich ins Bad, um mich zu übergeben. Noch zwei Stunden später kauerte ich als Häufchen Elend zwischen Toilette und Badewanne. Ich weiß nicht mehr, wie ich es schaffte, die Kinder von ihren Schulen abzuholen, ihnen Mittagessen zu machen und sie dann zu ihren Nachmittagsaktivitäten zu bringen. Helene, meine Große, schaute mich zwar ein paar Male neugierig von der Seite an, stellte aber keine Fragen.

      Sie nehmen sicher an, ich hätte Hannos Anzüge zerschnitten oder wenigstens aus dem Fenster in den Vorgarten geworfen. Da muss ich Sie enttäuschen. Ich verpackte seine Kleidung ganz ordentlich in unserem mehrteiligen Burberry-Kofferset.

      Am frühen Abend klingelte es an der Tür. Ich hatte gehofft, es wäre Franziska, meine Nachbarin, der ich in meiner Verzweiflung mehrere SMS geschickt hatte, doch statt ihrer schaute mich Hannos Fahrer voller Mitgefühl an. Er überreichte mir den ersten Brief seines Chefs und griff sich Hannos Koffer, die bereits im Flur auf ihn warteten. Dann lud er sie in den Kofferraum, nickte mir kurz zu und setzte schließlich rückwärts aus der Einfahrt hinaus. Den Kindern sagte ich nichts an jenem Tag. Helene nahm die beiden umgefallenen Flaschen Rotwein vor dem Sofa am nächsten Morgen genauso wortlos zur Kenntnis wie meine rotgeweinten Augen.

      In jenem ersten Schreiben ließ Hanno durch seinen Anwalt, Herrn Doktor Eberhard Wittig, ankündigen, sich kulant zeigen zu wollen, so ich vernünftig sei. »Wittig – wie witzig, nur ohne Z, dafür mit einem zweiten T«, so stellte der sich stets vor. Ich möge bitte die Sache den Kindern erklären, ohne ihren Vater in einem schlechten Licht dastehen zu lassen, las ich. Schließlich trüge ich ja die Hauptschuld am Scheitern unserer Ehe. Er erwarte die drei an jedem zweiten Wochenende in Frau Srokas Stadtwohnung in Mitte, zum ersten Mal am nächsten Wochenende. Frau Sroka freue sich schon darauf, mit den Kindern tolle Sachen zu unternehmen. Das Haus ließe er schnellstmöglich verkaufen, auf dem aktuellen Immobilienmarkt stelle das sicher kein Problem dar. Ich bekäme eine Summe zur Überbrückung. Er nähme an, dass drei Monate ausreichend für mich seien, einen Umzug zu organisieren und mir eine Arbeit zu suchen. Der Unterhalt, den er für die Kinder zu zahlen bereit sei, läge über dem Betrag, zu dem er verpflichtet sei – ein weiteres Zeichen seines Entgegenkommens. Doktor Wittig wünschte mir viel Glück auf meinem weiteren Weg und wies auf seine Kontaktdaten hin, da ich ab sofort über ihn mit Hanno zu kommunizieren hätte. Mein zukünftiger Exgatte hatte an alles gedacht.

      Jenem ersten Schreiben waren weitere gefolgt, in beinahe monatlichem Rhythmus. Es ging immer um die Besuche der Kinder. Zunächst wollte er sie schon ab Donnerstag bis einschließlich Sonntag bei sich haben. Ich widersprach. Nach drei Monaten kürzte er dann den Unterhalt ganz erheblich. Ich fragte nach dem Grund. Wittig offenbarte mir daraufhin, dass sämtliche Gewinne der letzten beiden Geschäftsjahre sowie nahezu auch alle privaten Rücklagen des Herrn Hecht in die Firma geflossen seien – wegen dringend notwendiger Umstrukturierungsmaßnahmen und eines Firmenumzugs. Herr Hecht selbst bezöge nur noch ein eher bescheidenes Gehalt und sei somit nicht in der Lage, mehr zu zahlen. Hanno ließ regelmäßig die Frage stellen, wann ich endlich wieder in Lohn und Brot stünde, lieferte genaue monatliche Auflistungen von den Ausgaben, die er an »seinen« Wochenenden für die Kinder getätigt habe, und erwähnte eine Vielzahl anderer Belastungen, denen er ausgesetzt sei.

      Mein Geld war knapp geworden. Die Kinder mussten auf ihre Hobbys verzichten, da Hanno sich weigerte, die Kosten dafür weiter zu tragen. Im vorletzten Schreiben hatte Doktor Wittig (wie witzig, nur ohne Witz, fand ich mittlerweile) bemängelt, Herr Hecht und Frau Sroka hätten die Kinder wieder einmal neu einkleiden müssen, da deren Kleidung verschmutzt gewesen sei, und überdies hätte Herr Hecht beim Abholen warten müssen. Daniel hatte an jenem Freitag darauf bestanden, sein Lieblingssweatshirt anzuziehen, das ich nur heimlich waschen durfte, wozu ich einige Wochen nicht gekommen war. Das sah man dem guten Stück an. Doch Daniel war nicht davon abzubringen, nur in diesem Pullover zu seinem Vater zu gehen. Und da Hanno bereits unten hupte und Siebenjährige doch ohnehin nur nach Keksen und Liebe rochen, auch wenn sie noch so lange in derselben Kleidung steckten, hatte ich Daniel seinen Willen gelassen, einen Pullover zum Wechseln in die Tasche gesteckt und die Kinder hinunter zu ihrem Vater geschickt.

      Ich stand nun also mit dem aktuellen Schreiben von Hannos Anwalt vor dem Spiegel in meinem Schlafzimmer. Was dachte Hanno sich nur dabei, seinen Anwalt derartige Briefe aufsetzen zu lassen? Ich verstand sein Verhalten nicht nur mir, sondern vor allem auch den Kindern gegenüber von Woche zu Woche weniger. Er führte einen bestens organisierten Kleinkrieg gegen mich, und ich hatte nichts, um mich dagegen zur Wehr zu setzen. Ich kam mir vor wie eine Maus, die mit gebrochenen Hinterbeinen darauf wartete, dass die Katze sie endlich verschlänge. Die aber schubste das lustig zappelnde Ding nur weiter hin und her.

      Seit seinem ersten Schreiben waren neun Monate vergangen. Neun dunkle, kalte, hässliche Monate, in denen ich meinen Kindern wieder und wieder erklären musste, warum ihr Vater nicht nur unser Zuhause verlassen hatte, sondern dieses Zuhause auch verkauft hatte und wir umziehen mussten. Neun schlaflose, durchweinte und verzweifelte Monate, in denen ich zu viel trank und große Angst vor der Zukunft hatte. Neun Monate, in denen ich funktionierte, damit die Geschehnisse – Trennung, Umzug, neue Schulen, Mama am Rande eines Nervenzusammenbruchs – für die Kinder möglichst wenig belastend wurden.

      Den Weihnachtsabend