Artur Weiß

Die letzten Kinder Bessarabiens. Neuanfang nach Krieg Flucht und Vertreibung in der DDR


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hatten mich hart im Nehmen gemacht. Ich war der Älteste und spürte, dass ich Verantwortung für die Jüngeren tragen musste. Vor allem hatte ich für Mutter eine Stütze zu sein. Wenn es auch schmerzte, wieder unter einer neuen Gewaltherrschaft leben und arbeiten zu müssen, verdrängten wir doch die vorhandenen Realitäten.

      Die Möglichkeit nach Baden-Württemberg umzusiedeln, wie es viele unserer Landsleute taten, wurde uns von der russischen Besatzungsmacht verweigert. An Unrecht, Gewalt und Bevormundung gewöhnt, beschloss ich, in der russischen Zone zu bleiben und die Landarbeit an den Nagel zu hängen. Der Bauer war meinen bescheidenen Lohnforderungen nicht nachgekommen, es kam dann zu Streitigkeiten.

      Der Wunsch, einen Beruf zu ergreifen, nahm vollen Besitz von mir. Ich durfte ihn in Belzig beim Schmiedemeister Ernst Gottwald umsetzen. Nun schon als 17-Jähriger trat ich die dreijährige Lehre am 15. November 1947 an. So begann für mich ein neuer wichtiger Lebensabschnitt, der mich froh und glücklich stimmte.

       Mein erster Eindruck in der Schmiede, der Meister beim Hufeisen schmieden

      Zum ersten Mal in meinem jungen Leben konnte ich auf eigenen Beinen stehen und mein eigenes Geld verdienen. Der tägliche Weg zur Arbeit war beschwert, weil er mit einem Fußmarsch von drei Kilometern zur Eisenbahn nach Dahnsdorf verbunden war. Später bewältigte ich die Strecke mit einem Fahrrad, das mir durch ein Lebensmitteltauschgeschäft zum Eigentum wurde. Auf dieselbe Weise hat auch mein Freud Simon ein Fahrrad bekommen, denn mit Lebensmitteln war es 1947 möglich, alles zu bekommen. Weil sich Simon eine Lehrstelle als Schumacher beschaffte, fuhren wir beide täglich bei Wind und Wetter acht Kilometer nach Belzig zur Arbeit.

      Das tägliche Miteinander ließ unsere Freundschaft noch enger werden, es entstand eine echte Kameradschaft, wozu auch Hugo zählte. Mein Freund Hugo war zunächst in der Landwirtschaft geblieben, erst später hat er den Beruf eines Lokomotivführers erlernt. Wir als Trio waren unzertrennlich und hatten inzwischen guten Kontakt zu der einheimischen Jugend gefunden.

       In dieser alten Schmiede erlernte ich den Beruf eines Schmiedes

      Wenn es zu Meinungsverschiedenheiten, Rangeleien und Handgreiflichkeiten mit der einheimischen Jugend gekommen war, brauchte man gute Freunde, um sich wehren zu können.

      Der Pfarrer und Lehrer des Dorfes unterstützten die Jugendgruppe massiv bei ihrer Arbeit und organisierten Veranstaltungen. Sie sorgten auch dafür, dass wir Flüchtlinge in der Gruppe nicht mehr ignoriert und beleidigt wurden, sondern einfach dazugehörten. Traditionell wurden Theaterstücke eingeübt, die unter der Leitung des Dorfschullehrers aufgeführt wurden. Anschließend spielte im Saal die Musik zum Tanz auf. In den Wintermonaten gingen die Mädels und jungen Frauen abwechselnd zur Spinnichte (Spinnstube), zu Spinn- und Nadelarbeiten. Dabei wurden Heimatlieder gesungen und Neuigkeiten ausgetauscht. Das war wohl nicht so recht erwünscht, die kommunistische Jugend-Organisation (FDJ) schickte ihre Funktionäre auf die Dörfer, die bestehenden Jugendgruppen sollten in die neue Organisation eintreten. Die Bürgermeister bekamen Weisungen, in ihren Gemeinden kommunistische Organisationen wie FDJ, SED, FDGB und DSF zu gründen. Die Einflussnahme der Funktionäre in das dörfliche Leben war das Ende verschiedener Traditionen, die zu den Lebensgewohnheiten der Bauern gehört hatten. Dazu kamen noch die Bestrebungen zur Kollektivierung der Landwirtschaft und eine Reihe anderer einengender Bestimmungen. Dies zusammen machte dem herkömmlichen Leben auf dem Dorf den Garaus. Das ländliche, sittliche und heimatliche Flair ging durch die atheistische-kommunistische Einflussnahme für immer verloren.

      Meine beiden Freunde und ich distanzierten sich von allen politischen Aktivitäten, weil wir nicht noch einmal von einer Diktatur gedrillt und missbraucht werden wollten. Vielmehr wandten wir uns des Lebens schönster Seite zu, weil uns Siebzehnjährigen auffiel, dass sich die Mädchen für uns interessierten. Aufgrund des Krieges, der Flucht und Vertreibung erfasste uns die Pubertät erst später als die anderen. Mit einer Freundin die Abende und Wochenenden zu verbringen, war schön. Das half auch, die schrecklichen Erlebnisse zu verdrängen. Wenn das Wochenende nahte, hatten Hugo, Simon und ich immer einen festen Plan, wohin wir mit unseren Freundinnen per Fahrrad tanzen fahren wollten.

      Wenn meine Schwester Irma von der Schule nach Hause kam, brachte sie öfter die eine oder andere Freundin mit, die mir schöne Augen machte. Dies ließ ich wohlwollend über mich ergehen. Zurzeit ging es in ihren Gesprächen darum, welche Kleider sie zu der anstehenden Konfirmation tragen werden. Traditionell waren die Kleider blau zur Prüfung, welche vier Wochen vor der Konfirmation stattfand, und schwarz zur Konfirmation. Ein blaues Kleid hatte Irma, ein Schwarzes aber fehlte ihr, Mutter suchte einen Ausweg und fand ihn. Es verging kaum ein Tag, wo nicht Frauen und Männer aus den Großstädten im Dorf ihre Habseligkeiten gegen Lebensmittel eintauschten. Diese Situation nutzte Mutter, als eine Frau sie nach Lebensmitteln ansprach, die zufällig ein Kleid am Leibe trug, wie es sich meine Schwester wünschte. Nun geschah etwas Makaberes: Die junge Frau gab ihr Kleid für Kartoffeln, Erbsen, Mehl und ein paar Eier her. Damit die Frau nicht halb nackt den Hof verlassen musste, gab Mutter ihr ein abgelegtes Kleid. Hier zeigt sich, was man alles tut, wenn einem der Magen knurrt.

      Die Freude war ganz auf meiner Schwester Seite, als Mutter ihr das eingetauschte Kleid zeigte. Mit Freudentränen in den Augen umarmte sie ihre Mutter. Bei der Anprobe wurde festgestellt, dass nur wenige Änderungen vorgenommen werden müssen. Dies besorgte eine Flüchtlingsfrau aus Schlesien. Es war Eile geboten, weil es nur noch wenige Tage bis zur Einsegnung waren. Irma konnte es kaum erwarten, bis sie endlich ihr Kleid anziehen konnte. Aber zuerst kam der Tag der Konfirmandenprüfung, wobei die Mädels alle in Blau gingen. Irma wurde von ihrer Freundin Plantina abgeholt. Dann gingen die beiden Vierzehnjährigen die Dorfstraße entlang, ich schaute ihnen zufrieden nach. Stunden später kamen sie mit strahlenden Gesichtern zurück. Stolz zeigten sie uns ihre Zeugnisse und auch das Datum der Konfirmation. Schon am frühen Morgen des 14. April 1947 lag eine gewisse Unruhe in der Luft, als Irma endlich ihr Lieblingskleid anzog und von uns allen bewundert wurde. Indem kam Plantina mit zwei Freundinnen lärmend und aufgeregt die Treppe hoch. Auch sie trugen ihre schönsten Kleider. Sie bestaunten sich gegenseitig und tauschten Komplimente. Dann steckte Mutter ihrer Tochter noch eine Ansteckrose an das schwarze Kleid. Nun hatte das arme Flüchtlingsmädchen doch noch eins der schönsten Kleider an.

      Als das Glockengeläut einsetzte, stürzten die Konfirmandinnen die Treppe hinunter und liefen eilig zu ihrem Treffpunkt. Aus allen Richtungen strömten die Dorfbewohner in die Kirche, auch wir folgten ihnen.

      In der gut besuchten Kirche fanden alle einen Platz, dann zogen bei Orgelmusik die Konfirmanden ein und nahmen im Altarraum ihre Plätze ein. Pfarrer Maier trug zur Feier des Tages seine Predigt vor, in welcher er sich an die Konfirmanden und Eltern wandte. Auch ließ er die gegenwärtige Zeit nicht unerwähnt und ermahnte die Gemeinde zur Besonnenheit.

      Wahrscheinlich veranlassten auch ihn die schlechte Politik und die Lebensbedingungen dazu, die Versorgung war 1947 immer noch katastrophal und alles war rationiert. Daher war es uns Flüchtlingen nicht möglich, nach dem Kirchengang eine Konfirmationsfeier abzuhalten. Es reichte nur zu einem Kuchen, den Mutter gebacken hatte. Die Bauern konnten, wie üblich, für ihre Kinder eine reiche Festtafel bieten und den Gästen ein berauschendes Fest ausrichten. Dies hätte unsere Mutter zu Hause auch gekonnt, wenn wir nicht durch Krieg, Flucht und Vertreibung alles verloren hätten.

      Mit dieser Feststellung ging eine turbulente Zeit zu Ende und für Irma begann ein neuer Lebensabschnitt.

      Vorerst musste sie, wie alle anderen Konfirmanden, bis zu den Sommerferien den Schulabschluss der 8. Klasse machen.

      Inzwischen waren meine kleinen Brüder Helmuth und Herbert herangewachsen und besuchten täglich die Schule in Mörz. Sie hatten Zeit, sich nur um die Belange der Schule zu kümmern und konnten intensiv ihre Schularbeiten machen.

      Meine