niemand kann ohne eine Garantie durch bereits initiierte Mitglieder aufgenommen werden.
Einmal aufgenommen, muss sich der perfekte Mafioso als absolut gehorsam erweisen. Unterordnung wird ebenso großgeschrieben. „Man muss der Cosa Nostra jederzeit zur Verfügung stehen, auch dann, wenn die Ehefrau kurz vor der Entbindung steht“, heißt es in Regel Nummer fünf. Viel ist auch von Moral die Rede, vor allem von Sexualmoral. Ein guter Mafioso darf sich nicht betrinken – er könnte unter Alkoholeinfluss ein Geheimnis verraten –, und er darf sich auf keinen Fall, will er nicht sein Leben riskieren, den Ehefrauen anderer Clanmitglieder unsittlich nähern. Der eigenen Ehefrau gegenüber ist er hingegen verpflichtet, „Respekt zu erweisen“. Weiters muss er pünktlich und „ehrlich sein“, was übersetzt bedeutet: Er darf seinen Boss weder belügen noch ihm etwas verschweigen. „Wer sich schlecht benimmt und moralische Werte nicht einhält“, kann nicht in die Mafia aufgenommen werden, schließt Regel Nummer zehn.
Frauen kommen in diesem idealisierten Bild einer kriminellen Männergesellschaft nur in untergeordneter Stellung vor: als passive Wesen, die Avancen von fremden Männern nachgeben könnten, als respektable Mütter sowie als Hüterinnen des heimischen Herdes. Frauen sind dem Mann demnach untergeordnet und müssen schweigen. Sie leben abgeschottet in der Welt der „Ehrenwerten Gesellschaft“ und sind in erster Linie eine Stütze für ihren Ehemann, so beschreibt Tommaso Buscetta, einer der berühmtesten Kronzeugen, die Situation der Frauen in der Mafia während einer Vernehmung in den 1980ern.
Nicht hören. Nicht sehen. Nicht sprechen. Doch die Realität sieht anders aus.
Ohne Frauen würde das organisierte Verbrechen nicht funktionieren. Heißt es nun Cosa Nostra, Camorra, ’Ndrangheta oder Sacra Corona Unita.
Die zehn Gebote der Mafia
1 Man kann sich unseren Freunden nicht allein vorstellen, das geht nur über einen Dritten.
2 Schaue keine Ehefrau unserer Freunde an.
3 Man freundet sich nicht mit Bullen an.
4 Man besucht keine Tavernen und keine Clubs.
5 Man muss der Cosa Nostra jederzeit zur Verfügung stehen, auch dann, wenn die Ehefrau kurz vor der Entbindung steht.
6 Verabredungen müssen kategorisch eingehalten werden.
7 Der eigenen Ehefrau muss Respekt erwiesen werden.
8 Wenn man nach etwas gefragt wird, das man weiß, muss man die Wahrheit sagen.
9 Das Geld anderer oder anderer Familien darf man sich nicht aneignen.
10 Wer nicht aufgenommen werden kann: Wer ein enges Familienmitglied bei den Sicherheitskräften hat. Wer Fälle von Untreue in der Familie hat. Wer sich schlecht benimmt und moralische Werte nicht einhält.
Am 25. Juni 1998 klicken für Giusy Vitale die Handschellen. Unerwartet, wie sie später sagen wird. Die junge Frau hatte sich sicher gefühlt, doch Abhöraktionen der Polizei wurden ihr zum Verhängnis.
Mit ihrer Verhaftung wird ein neues Kapitel in der Geschichte der sizilianischen Mafia geschrieben. Giusy Vitale ist die erste Frau, die in Palermo wegen ihrer führenden Rolle nach dem Mafia-Paragrafen angeklagt und rechtskräftig verurteilt wird. Später beschließt sie, als Kronzeugin auszusagen, und wird ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen.
Von einem „atypischen Phänomen“ ist im Untersuchungshaftbefehl zu lesen, von „etwas, das scheinbar alle Regeln durchbricht“: Eine Frau nimmt eine außergewöhnliche Position ein, fernab der klassischen Rolle einer donna di mafia, einer Mafia-Frau.
„Ja, ich war an der Spitze der Cosa Nostra“, antwortet Giusy Vitale während des Prozesses auf die Frage von Staatsanwalt Francesco Del Bene nach ihrer Rolle in der Mafia. Die italienischen Medien bezeichnen die damals 26-Jährige spontan als „boss in gonnella“ („Boss im Rock“), als Lady Boss, als eine „Frau, die es Männern gleichtut“. Hart, unerschrocken und unerbittlich.
Das Wort Mafia hört Giusy Vitale in ihrer Kindheit nie. Es ist auch gar nicht nötig, denn sie atmet das organisierte Verbrechen mit der Luft ein, die sie umgibt. Sie nimmt Regeln und Verhaltensmuster ihrer männerdominierten Umwelt nicht nur passiv auf, sie versucht sie selbst umzusetzen. Dazu bedarf es jedoch keines mafiatheoretischen Einführungsunterrichtes, es genügt die tagtäglich gelebte Realität.
Giusy Vitale wird am 25. Februar 1972 in Partinico geboren, als Letzte in einer Reihe von fünf Geschwistern. Ihre Brüder Leonardo, Michele und Vito sind ihre wichtigsten Bezugspersonen, wichtiger sogar als die für sie bereits relativ alten Eltern. Leonardo ist 17, als Giusy geboren wird, Michele 15 und Vito 13. Anders als ihre ruhige und angepasste Schwester Nina sieht sie in ihren älteren Brüdern Helden. Idole, die vor den bösen Bullen beschützt werden müssen. Halbgötter, denen sie gefallen und nacheifern will. Vor allem Leonardo ist für Giusy die „eigentliche väterliche Figur in der Familie“.
Giusy ist erst sechs Jahre alt – erzählt sie vor Gericht –, als sie erstmals an der Hand ihrer Mutter die Brüder im Gefängnis besucht. Sie erinnert sich an die stumme Verzweiflung der Mutter, die ihren Söhnen jedoch nach jeder Straftat, ohne Fragen zu stellen, zur Seite stand. An die Angst, die selbst der eigene Vater vor seinen gewalttätigen Kindern hatte. Die Justizprobleme der Brüder – vor allem die von Leonardo und Vito – dominieren den Alltag der Familie. Gefängnisaufenthalte sind Teil dieser vermeintlichen Normalität. Einer wird entlassen, der andere verhaftet. Eine Art kriminelle Endlosschleife. Die Anklage ist jedoch immer ein und dieselbe: Zugehörigkeit zur Mafia.
Partinico ist eine kleine Stadt nahe Palermo mit heute etwas mehr als 30.000 Einwohnern. 1968 drehte Regisseur Damiano Damiani mit Claudia Cardinale und Franco Nero in den Hauptrollen hier einige Szenen seines Films „Der Tag der Eule“ („Il giorno della civetta“). Als Vorlage diente Damiani der gleichnamige Roman des sizilianischen Schriftstellers Leonardo Sciascia, in dessen Mittelpunkt ein hochmotivierter Polizist aus dem Norden steht. Hauptmann Bellodi soll den brutalen Mord an einem Bauunternehmer aufklären. Doch der Ermittler scheitert trotz hoher Professionalität und drückender Beweise an der Omertà, dem Schweigen der Bevölkerung aus Angst vor der Mafia.
Doch Partinico stand schon vor Sciascias 1961 veröffentlichtem Roman im Geruch des organisierten Verbrechens. Der italienische Sozialreformer und deklarierte Pazifist Danilo Dolci machte die Kleinstadt daher zur Basis seiner gewaltfreien Aktivitäten. Als er entdeckte, dass die Mafia sogar die Wasserversorgung des landwirtschaftlich genutzten Gebietes kontrollierte, trat Dolci in den Hungerstreik. Er forderte die Errichtung eines Staudamms am Fluss Jato, denn die Brunnen waren fest in der Hand der Bosse. Das daraus gewonnene lebensnotwendige Wasser ließen sie sich teuer abkaufen. Mit dem Damm – so die Idee Dolcis – sollte die Bevölkerung den freien Zugang zu den Wasserreserven erhalten und damit eine bessere Lebensgrundlage bekommen.
Unter dem Eindruck der Not der Menschen und ihrer Unterdrückung durch die allgegenwärtige Cosa Nostra gründete Dolci 1958 in Partinico ein Forschungsinstitut zur Entwicklung von Arbeitsplätzen, das Centro Studi e Iniziative per la piena Occupazione. Revolution, das heißt, jedem Einzelnen Verantwortung geben, war eines von Dolcis Leitmotiven. Nur so, war er überzeugt, können die Verbindungen von Politik und Mafia gekappt werden. Internationales Aufsehen hatte der „Gandhi Siziliens“ bereits zwei Jahre zuvor erregt. Sein „Umgedrehter Streik von Partinico“, "lo sciopero alla rovescia", wurde von vielen Medien aufgenommen, aber auch kontrovers diskutiert. Dolci legte den Finger auf eine offene soziale Wunde und ein bis dahin weitgehend ignoriertes Problem: Bezahlte Arbeit gab es in der meist bitterarmen und vom organisierten Verbrechen dominierten Region so gut wie keine.
Die Grundidee war die: Wenn ein Arbeiter, um zu protestieren, streikt, dann muss ein Arbeitsloser, der sein Recht auf Arbeit einfordern will, arbeiten. Gemeinsam mit hunderten Arbeitslosen begann Dolci eine völlig kaputte, für die lokale Infrastruktur jedoch unverzichtbare Landstraße zu reparieren. Die Polizei schritt