Euro an eine gemeinnützige Einrichtung zu zahlen und alle Verfahrenskosten zu übernehmen. Die Hinterbliebenen haben diesem Prozedere auf Anraten ihres Anwalts erst dann zugestimmt, als die hinter dem Arzt und dem Klinikum stehende Haftpflichtversicherung sich während des Strafprozesses schriftlich und rechtsverbindlich dazu verpflichtet hatte, Schadensersatzansprüche für Witwe und Kinder in fast voller Höhe anzuerkennen.
Um eine geringe Mithaftung wurde hart gerungen. Die Gegenseite hatte argumentiert, dass eine Verlegung von Robert H. ins Deutsche Herzzentrum während der Nacht ein nicht ausschließbares zusätzliches Risiko dargestellt hätte, so dass eventuell schon auf dem Transport oder unmittelbar danach ein kompletter Riss des Aneurysmas hätte eintreten können. Reanimationsmaßnahmen wären dann möglicherweise hoffnungslos gewesen.
Die Witwe hat diesen Kompromiss letztlich akzeptiert. Ein Abstrich von etwa fünfzehn Prozent der Gesamtansprüche war hinnehmbar, weil ihr damit ein vermutlich jahrelanger Zivilprozess erspart blieb. »Auf das Geld kam es mir letztlich nicht an, auch wenn ich mir vor allem während der Nacht den Kopf darüber zerbrach, wie ich meine Kinder durch die Schule und später vielleicht auch durch ein Studium bringen konnte.«
Zur Auszahlung gelangte schließlich im Rahmen eines Vergleichs eine Entschädigung von 310.000 Euro. Damit war die Existenzgrundlage von Mutter und Kindern wenigstens für die nächste Zukunft gesichert.
Noch zwei kurze Anmerkungen zu diesem Fall.
Die Hinterbliebenen konnten ihre Schadensersatzansprüche nur durchsetzen, weil eine Obduktion mit exakter Eingrenzung der Todesursache durchgeführt wurde. In Deutschland wird viel zu wenig obduziert. Andere Länder sind uns da weit voraus, wobei rechtspolitische Forderungen darauf konzentriert sind, Verbrechenstatbestände aufzudecken. Auch Hinterbliebene sollten aber eine Obduktion in Erwägung ziehen, wenn der Verdacht eines Arztfehlers aufkommt. Ohne Obduktion gibt es kaum strafrechtlich oder zivilrechtlich verwertbare Erkenntnisse.
An die Klinikleitungen ergeht die Mahnung, an Sonn- und Feiertagen keine unerfahrenen Therapeuten einzuteilen, zumindest nicht ohne Aufsicht. Bei den zahlreichen Arzthaftpflichtschäden verschiedener Kliniken fällt häufig auf, dass an solchen Tagen Kapazitätsengpässe entstehen. Das mag mit dem Wirtschaftlichkeitsdenken der Verwaltungen zusammenhängen, vielleicht auch mit einem gesteigerten Freizeitbedürfnis von Ärzten und Pflegepersonal. Offenbar gehört der hochrangige Grundsatz »Das Wohl des Kranken ist oberstes Gesetz« der Vergangenheit an.
Der nicht erkannte Herzinfarkt
Auch das nachfolgende Schicksal der Patientin Elisabeth T. ist symptomatisch für die Behandlungsmisere an Sonn- und Feiertagen.
Elisabeth T. wohnt in einer Kleinstadt mit knapp 17.000 Einwohnern. Hier sind 38 Ärzte verschiedener Fachrichtungen zugelassen, etwa genauso viele in den umliegenden Ortschaften. Außerdem gibt es ein Kreiskrankenhaus. Man sollte meinen, dass die Kreisstadt damit über eine ausreichende medizinische Versorgung verfügt.
Das gilt leider nicht für die Wochenenden und die erwähnten Sonn- und Feiertage. Auch am Mittwochnachmittag und an allen übrigen Tagen von sechs Uhr abends bis sieben Uhr früh haben alle Arztpraxen geschlossen. Die medizinische Versorgung wird dann einem Notdienst übertragen, der sich überregional organisiert hat. Das hat zur Folge, dass Ärzte aus der Landeshauptstadt oder aus anderen Ortschaften für die Betreuung zuständig werden, die mit den örtlichen Gegebenheiten nicht vertraut sind und nicht immer die nötige Erfahrung, vielleicht auch Einsatzbereitschaft mitbringen.
An eine solche Notärztin aus der Landeshauptstadt geriet am zweiten Weihnachtstag des Jahres 2005 die 66-jährige Elisabeth T. Sie litt seit den Morgenstunden an Unwohlsein mit stärker werdenden Schmerzen im Oberbauch, verbunden mit gefühlter Abgeschlagenheit, Mattigkeit und Kaltschweißigkeit. Hinzu kam eine bis dahin unbekannte Atemnot. Sie ging zum ärztlichen Notdienst, der an diesem Tag von Dr. Karin S. ausgeübt wurde.
Die Ärztin stellte sich weder mit Namen vor, noch gab sie zu erkennen, welcher Fachrichtung sie angehört. Sie hinterließ auch keine Anschrift, sodass keine gezielte Auskunft über sie eingeholt werden konnte. Den Dienst übte sie in den Räumen einer früheren Schule aus, in denen keinerlei Grundausstattung an apparativer und instrumenteller Versorgung wie EKG, Ultraschallgerät oder ähnlichem zur Verfügung stand.
Elisabeth T. schilderte der Notärztin die Symptome. Dr. S. tastete ihre Bauchgegend ab. Sie habe vermutlich eine Magenschleimhautentzündung, erklärte sie, offenbar habe sie an den Weihnachtsfeiertagen zu viel gegessen. Sie stellte ihr ein Rezept für Tabletten aus. Die Untersuchung dauerte keine fünf Minuten.
Der Ehemann holte die verschriebenen Tabletten aus der Apotheke, die an diesem Feiertag den Notdienst versah. Die Patientin nahm die Tabletten der Verordnung gemäß ein. Eine Besserung verspürte sie nicht. Sie sah aber am nächsten Tag keine Veranlassung, zu ihrem Hausarzt zu gehen. Die Notärztin hatte ihr ja mitgeteilt, sie müsse nur die Tabletten regelmäßig einnehmen, dann werde es ihr schon besser gehen.
Als sich diese Besserung dann doch nicht einstellte, suchte Elisabeth T. nach den Feiertagen, am 2. Januar 2006, ihren Hausarzt auf. Dieser hielt eine weitere Untersuchung für angezeigt und überwies sie an den örtlichen Radiologen. Der schickte sie wegen uneindeutiger Bilder des Thorax (Brustkorb) zum Hausarzt zurück, in dessen Praxis sie regelrecht zusammenbrach. Der Hausarzt veranlasste umgehend ein EKG und alarmierte das Kreiskrankenhaus.
Auf der Intensivstation wurde eine Entzündung des Herzmuskels festgestellt, in dessen Folge sich etwa zwei Liter Wasser in der Lunge angesammelt hatten. Die Diagnose lautete: Herzinfarkt mit weitreichenden und schweren Schäden.
An die Aufnahme im Kreiskrankenhaus schlossen sich zehn stationäre und mehrere Reha-Behandlungen in verschiedenen Kliniken an. Schließlich wurde festgestellt, dass das Herz aufgrund des am 26. Dezember 2005 erlittenen Infarkts und der nachfolgenden Fehlbehandlung so gravierend geschädigt war, dass die Indikation zur Implantation eines Spenderherzens gestellt werden musste.
Für die Transplantation erhielt die Patientin vom Herzzentrum die höchste Dringlichkeitsstufe. Am 14. Mai 2007 wurde ihr dort ein Spenderherz implantiert. Seither erhält Elisabeth T. auf Anordnung des Herzzentrums 29 Tabletten pro Tag (!), mit denen eine Abstoßung des Spenderorgans vermieden, aber auch der Elektrolythhaushalt und die Magenverträglichkeit stabilisiert werden. Die Patientin weiß nicht, wie lange es sich erträglich so weiterleben lässt.
Dieser Fall zeigt zunächst eine erschreckende Unkenntnis in der Diagnostik der Notärztin. Die von der Patientin geschilderten Symptome sind geradezu klassische Indikatoren für einen Herzinfarkt. Das lernt ein Medizinstudent in den ersten Semestern. Da der Notärztin in ihrer kärglich eingerichteten Dienststelle die apparativen Voraussetzungen fehlten, um die gebotene weitere Abklärung vorzunehmen, hätte sie die Patientin in das nahegelegene Kreiskrankenhaus einweisen müssen.
Wie Frau Dr. S. zur Diagnose einer Magenschleimhautentzündung kam, ist nicht nachvollziehbar. Sie hielt sich nicht mit einer Anamnese auf, fragte also nicht, was die Patientin während der Feiertage wann und in welchem Umfang zu sich genommen habe – hier genügte wohl die Assoziation: Weihnachtsfeiertage, Gänsebraten, übergewichtige Patientin und Bauchweh, also zu viel gegessen. Was Kaltschweißigkeit und Atemnot mit Magenschleimhautentzündung zu tun haben sollen, bleibt rätselhaft.
Damit nicht genug: Die Patientin konnte bei Annahme des Anwaltsmandats nicht angeben, welche Ärztin aus welcher Stadt am Zweiten Weihnachtstag als Notärztin fungiert hatte, so dass umfangreiche Recherchen erforderlich waren.
Dabei ergab sich, dass die meisten in der Kreisstadt niedergelassenen Ärzte schon vor mehr als zehn Jahren übereingekommen waren, einen Kollegen aus der Landeshauptstadt damit zu beauftragen, den ärztlichen Notdienst zu organisieren und auf ortsfremde Ärzte zu übertragen. Zu diesem Zweck erscheint in regelmäßigen Abständen eine Anzeige in der örtlichen Presse:
Hausärztlicher Notdienst
Um die Versorgung der Patienten im Stadtgebiet […] außerhalb des Kassenärztlichen Notdienstes auch am Montag, Dienstag und Donnerstag sicherzustellen, haben die in der Kleinstadt tätigen Allgemeinärzte und die hausärztlich