der Reichsregierung nicht hinzuzogen. Er schrieb diesen Brief an Hirsch, als er gleichzeitig in einen bizarren Streit um seine Unterschrift unter einen öffentlichen Durchhalte-Aufruf verwickelt war und sich fürchterlich darüber aufregte, dass die Regierung mit Zustimmung der Unternehmerverbände den Gewerkschaften im Gegenzug für ihre Unterschrift Zugeständnisse gemacht hatte.43
In der Schwerindustrie wuchs im Herbst 1916 der Unmut über die angeblich zu große Kompromissbereitschaft der Reichsregierung bei den künftigen Friedensverhandlungen. Aus dem Alldeutschen Verband kam das Gerücht, die Regierung habe angeboten, ganz Belgien und Frankreich zu räumen, wenn England vorher seine Truppen aus Frankreich abziehe. Die Industriellen waren empört über soviel „Nachgiebigkeit …, die geradezu unerhört wäre und den schärfsten Widerspruch herausfordern müsste.“44 Reusch sah die Sache noch düsterer. Zunächst brüstete er sich damit, dass er bereits im August 1914 gegenüber dem Reichskanzler gefordert habe, „dass das Hochplateau von Briey beim Friedensschluss an Deutschland fallen soll“.45 Dass er die betreffende Eingabe nicht an den Kanzler, sondern an den Vizekanzler Delbrück adressiert hatte, sei nur am Rande erwähnt. Unter Berufung auf einen namentlich nicht genannten hohen Beamten listete er dann sechs konkrete Punkte auf, die Teil von Bethmann Hollwegs Friedensangebot seien: „1., Alte Grenzen gegen Frankreich; 2., Herausgabe von Belgien; 3., Errichtung eines Königreichs Polen; 4., Schaffung eines selbständigen Staates Kurland und Litauen; 5., Forderung, dass der Kongostaat an Deutschland fallen soll …; 6., Die Regelung der Balkanfrage soll nach Befriedigung der bulgarischen Wünsche in der Hauptsache der Friedenskonferenz überlassen bleiben.“46 Zwar habe die OHL diesen Bedingungen noch nicht zustimmt, aber Reusch rechnete damit – den Einfluss des Zivilisten Bethmann Hollweg in eigenartiger Weise überschätzend –, dass der Kanzler sich durchsetzen werde. „Sie sehen, wir gehen sehr trüben Zeiten entgegen.“47 Diese Einschätzung von Friedens-Sondierungen – im dritten Kriegsjahr, zu Beginn des „Steckrübenwinters“ – ist bemerkenswert. Es fällt auch auf, dass Reusch nicht mehr von Zugeständnissen gegenüber Russland spricht, sondern sich nur an der Tatsache stört, dass in Polen und im Baltikum unabhängige Staaten entstehen sollten. Zu einem Zeitpunkt, wo im Osten mit einem Zusammenbruch des Zarenreiches gerechnet werden konnte, hielt er anscheinend „Nachgiebigkeit“ auch dort nicht mehr für angebracht.
Reuschs Kollege Wieland in Ulm schrieb sofort am zweiten Weihnachtstag seinen Antwortbrief, „bestürzt“ über den „unbegreiflichen Idealismus“ des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg. In dessen Absichten für ein Friedensangebot sei „mit Ausnahme der Forderung, dass der Kongostaat an Deutschland fallen solle, von Realismus nichts zu verspüren“. Der Kommerzienrat aus Ulm ereiferte sich: „Warum sollen … unsere tapferen Heere halb Europa in Besitz genommen, Millionen von Deutschen geblutet haben, dass wir in unserem Idealismus im Osten 2 selbstständige Staaten schaffen, Belgien herausgeben und die alten Grenzen gegen Frankreich bestehen lassen.“ Wieland bot an, einen Bericht über Bethmann-Hollwegs Absichten in die nächste Sitzung des Württembergischen Landesausschusses der Nationalliberalen Partei zu lancieren, um dadurch einen Beschluss gegen diese Pläne herbeizuführen.48 Doch davon hielt Reusch gar nichts: Er könne seinen „Gewährsmann“ nicht namentlich nennen; um ihn „nicht in Verlegenheit [zu] bringen“, verbat er sich auch die Erwähnung seines eigenen Namens in diesem Zusammenhang. In der Öffentlichkeit dürfe man „mit Rücksicht auf unsere Feinde“ sowieso nicht über die Friedensbedingungen sprechen. Ob die Oberste Heeresleitung Bethmann Hollwegs Pläne würde durchkreuzen können, vermochte Reusch nicht einzuschätzen. Er fürchtete aber, dass letztendlich der Reichskanzler sich durchsetzen würde.49
Hatte Reusch wirklich „Gewährsmänner an maßgeblicher Stelle“? Sein erschrockenes Zurückrudern gegenüber Wieland spricht eher dafür, dass er die durch die Berliner Amtsstuben wabernden Gerüchte einfach ungeprüft weiter trug. Bemerkenswert ist auch, dass ein Mann wie Wieland, der zwei Jahre später für die DDP als Abgeordneter in die Weimarer Nationalversammlung einziehen würde, also vermutlich nicht zum rechten Flügel der Nationalliberalen gehörte, derartigen – „realistischen“ – deutschen Weltmachtträumen nachhing. Er schlug vor, auch das katholische Zentrum gegen die Friedenspläne des Kanzlers zu mobilisieren.50 Im Januar 1917 konnte Reusch allerdings schon Entwarnung geben: „Nachdem unsere Feinde – Gott sei Dank, darf ich wohl sagen – die dargebotene Hand zurückgewiesen haben“, seien die Sorgen über die Absichten des Reichskanzlers vorerst gegenstandslos.51
Nach der russischen Februarrevolution wurden Reuschs Äußerungen über die Möglichkeiten eines Friedens im Osten sehr widersprüchlich. Einerseits warnte er vor zu großem Optimismus: „Voraussetzung für einen baldigen Friedensschluss mit diesem Lande [Russland] ist nach meiner Ansicht, dass die gegenwärtigen Machthaber nicht am Ruder bleiben und die Regierung entweder in die Hände der reaktionären oder radikalen Kreise kommt.“52 Wenn diese Äußerung so intendiert war, wie sie vom Leser nur verstanden werden konnte, so wäre dies in der Tat ein unverhohlen zynischer Standpunkt! Zwei Wochen später bekräftigte er seine frühere Meinung, dass mit Russland ein Verständigungsfrieden anzustreben sei, was zwangsläufig die Rückgabe der besetzten Gebiete voraussetze. Dies habe er „schon seit Jahr und Tag“ so vertreten. „Unsere Hauptfeinde sitzen im Westen; diese werden es auch für die nächsten Jahrhunderte bleiben.“53 Die beiden zitierten Briefe allerdings waren an einen Hauptmann der Reserve bzw. an einen Oberleutnant, nicht gerade sehr hochrangige Offiziere, gerichtet. Schreiben dieses Inhalts an die politischen Entscheidungsträger sucht man in seinem Nachlass vergebens. Während er bezüglich des Friedensschlusses im Westen gegenüber der Regierung und in den Verbänden sehr nachdrücklich seine Ansichten zur Geltung brachte, hielt er sich völlig zurück, als später die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk anstanden. Auch ist zu fragen, ob die wenig später geschlossenen Verträge mit Georgien, die der deutschen Schwerindustrie (unter Beteiligung der GHH) auf Jahrzehnte hinaus den exklusiven Zugriff auf das Manganerz des Kaukasus sichern sollten, in den Rahmen eines Verständigungsfriedens mit Russland gepasst hätten.54 Von einer wenigstens teilweise verständigungsbereiten („nüchternen“) Einstellung, damit man in der Zukunft nicht die ganze Welt zu Feinden hätte, sondern sich wenigstens mit Russland „vertragen“ könne, bleibt also nichts übrig.
Die Annexionsforderungen der deutschen Rechten, nachdrücklich unterstützt von den Herren der Schwerindustrie, waren das Haupthindernis für alle Versuche, einen Waffenstillstand und einen Verständigungsfrieden zu vermitteln. Das focht aber die Industriellen in keiner Weise an: Noch im Dezember 1917 verfasste der Verein Deutscher Eisen- und Stahl-Industrieller gemeinsam mit dem Verein der Eisenhüttenleute eine Denkschrift „Zur Einverleibung der französisch-lothringischen Eisenerzbecken in das deutsche Reichsgebiet“. Schon das Inhaltsverzeichnis machte deutlich, dass die beiden Verbände nicht bereit waren, auch nur einen Jota von ihren ursprünglichen Forderungen abzuweichen: „1. Die Abhängigkeit unserer Eisenerzversorgung vom Ausland birgt für Industrie, Staat und Volk die größten Gefahren in sich. 2. Die Vorsorge für die Zukunft macht die Verlegung der lothringischen Grenze unumgänglich notwendig. 3. Der Wert der einzuverleibenden Erzgebiete für unsere Volkswirtschaft und für eine künftige Kriegführung ist unermesslich groß.“55 Im „Schlusswort“ wird – mit vielleicht etwas übertriebenen, gleichwohl entlarvenden Formulierungen – der Wert der Kriegsbeute von 1871 noch einmal hervorgehoben: „Ohne das Eisenland Lothringen hätten wir diesen die größten Eisen- und Stahlmengen verschlingenden Krieg nie und nimmer siegreich führen können. Ohne Lothringen hätten wir aber auch trotz 44 Jahre langer emsiger Friedensarbeit weder im heimischen Wirtschaftsleben, noch auf dem Weltmarkt die gewaltigen Erfolge erzielen können.“ Deshalb trügen „unsere Staatsmänner“ die Verantwortung dafür, dass der kommende Friede alle die für unser Leben, für unsere Volkswirtschaft und Wehrmacht notwendigen fremden Gebiete dem deutschen Reichskörper einfügt“, zumal Lothringen ja „vor Jahrhunderten gewaltsam aus dem alten Deutschen Reich herausgerissen“ worden sei. Auch die Sicherung der Arbeitsplätze in der Industrie erfordere die Annexion dieser Erzgebiete.56 Obwohl die Denkschrift als „streng vertraulich“ gekennzeichnet war, ließ Reusch gedruckte Exemplare in relativ hoher Auflage an die leitenden Herren der GHH und im Rathaus Oberhausen verteilen.57
Sein Unternehmerkollege