breit machten und sie lahmzulegen drohten. Sie lehnte sich an die kühle Hauswand und dachte an Tim, an den vergangenen Abend oder waren es Jahre? Ihr Blick schweifte in die Ferne.
Sie rief kein Taxi, weil sie Zeit zum Nachdenken brauchte. Wo sollte sie anfangen zu suchen? Was sollte sie jetzt unternehmen? War ihm etwas zugestoßen? Nach stundenlangen Straßenzügen zurück am Tiber und noch einer Stunde Fußmarsch entlang des Flusses, setzte sie sich auf eine Bank und schaute auf die Engelsburg. Wie hatte sie sich darauf gefreut, all diese Dinge hier mit Tim zu besuchen. Nun stand sie vor ihr. Die Statuen entlang der Straße schauten ihr entgegen, so als wollten sie die Engel verhöhnen. Wie in Trance, lief sie an der Engelsburg vorüber zum Petersdom. Im Dom ließ sie sich von den Menschen nach vorn zum Hauptaltar treiben. Gleich nebenan blieb sie vor der heiligen Helena stehen. Sie schaute Helen an, als wolle sie ihr etwas sagen. Ihr etwas überreichen? Wie gebannt stand sie vor der Statue, die ihr die Hand entgegenhielt. Als sie einen Schritt auf sie zu machen wollte, streifte sie ein Mönch in braunem Gewand. Er schaute sie vertraut an, legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: „Er ist zu Hause. Es ist alles gut, gehen sie ihren Weg. Gott mit Ihnen.“ Ihr Herz begann zu rasen. Die Beine wurden weich und kurz bevor sie die schwarze Wolke eingeholt hatte, die ihr das Bewusstsein zu nehmen drohte, erreichte sie eine Bank vor dem Altar. Sie sank auf das harte Holt und wagte keinen Blick zurück. Mit erstarrtem Körper versuchte sie nur noch nach vorn zu blicken. Plötzlich spürte sie eine unsanfte Berührung an ihrem Arm. Wie aus einem Traum entrissen, schaute sie zur Seite. Eine ältere Dame blickte sie mürrisch an und zeigte auf ihre Tasche. Jetzt erst bemerkte Helen das Klingeln und Vibrieren ihres Handys. Hastig holte sie es heraus. Ihr Herz schien ihr aus dem Kopf springen zu wollen. Doch als sie auf das Display schaute, stellte sie enttäuscht fest, dass es Adrian war, ihr Sohn. Sie flüsterte „Hallo, Adrian?“
„Mutti, wie geht es dir?“, fragte er sie und klang besorgt. Sie unterbrach ihn, „Adrian, es ist alles in Ordnung. Ich kann jetzt nicht sprechen. Ich rufe dich später wieder an.“ Das war typisch für ihren Sohn. Er spürte immer sofort, wenn es ihr nicht gut ging. Sie durfte ihn jetzt nicht beunruhigen und was überhaupt sollte sie ihm sagen; dass Tim einfach wie vom Erdboden verschluckt, mitten im Urlaub, einfach weg war? Je weiter die Zeit dahineilte, desto seltsamer kam ihr das Ganze vor.
Was geschah mit ihr? Mit kalten Händen und Frösteln am ganzen Körper lief sie zurück. Den ganzen Weg über fühlte sie sich beobachtet, als sei sie der Mittelpunkt einer fremden und bedrohlichen Aufmerksamkeit.
Ihr Magen knurrte und die Kraft schien aus den Beinen entweichen zu wollen. Sie fand ein kleines Restaurant. Alles schien ihr so vertraut. Wenn Tim jetzt da gewesen wäre, hätte er in einwandfreiem Italienisch bestellt. Sie verlangte auf Englisch etwas zu trinken und zu essen und lächelte müde zurück, als der Kellner ein paar höfliche Komplimente zu ihrem Kleid machte. In ihr keimte etwas Hoffnung, doch noch Tim im Hotel wiederzufinden. So als ob nichts geschehen wäre, würde er vielleicht auf dem Bett liegen und Fernsehen schauen. Es dämmerte bereits. Das Restaurant füllte sich. Sie bekam kaum etwas von ihrer Umgebung mit, aß wenig und fühlte sich von innerer Unruhe getrieben, nachzuschauen, ob Tim nicht doch auf sie wartete. Nachdem sie bezahlt hatte und losgelaufen war, fiel ihr nicht einmal auf, dass sie immer schneller lief und die letzten Meter bis zum Hotel rannte. Sie war so aufgeregt, dass sie, angekommen an der Rezeption, ihre Zimmernummer vergessen hatte. Sie gab Tims Namen an, um ihren Schlüssel zu bekommen. Doch die Dame schüttelte nur mit dem Kopf, als sie in das Buch schaute „Es kann nicht sein. Wir sind gestern Abend hier angekommen“, stieß Helena panisch hervor. „Ich kann keinen Tim Kaller finden. Vielleicht haben sie unter ihrem Namen eingecheckt?“, fragte sie zurück. Helen schüttelte den Kopf. Nein das konnte nicht sein, reichte aber ihren Pass über den Tresen. „Na bitte“, die Empfangsdame lächelte, ging zur Wand holte einen Schlüssel hervor. „Seniora Kaller, hier bitte, ihr Schlüssel.“ Helen nahm den Schlüssel fassungslos entgegen. Tim war doch zur Rezeption gegangen und hatte sie angewiesen, mit den Koffern inzwischen im Foyer zu warten. Im Hinausgehen sah Helena die Empfangsdame mit dem Nachtportier tuscheln. Daten verschwammen in ihrem Gedächtnis. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Schlagartig wurde ihr jedoch bewusst, dass all ihre Hoffnungen nun schwanden. Der Schlüssel in ihrer Hand war der Beweis dafür, dass Tim nicht zurück war. Mit letzter Kraft stieg sie die Treppen empor. Sie schloss auf und stand fassungslos in einem Zimmer, in dem nichts, aber auch gar nichts daran erinnerte, dass Tim je hier gewesen war. Sie setzte sich auf das große Doppelbett, unfähig sich zu rühren und starrte ins Leere. Noch immer nicht in der Lage, irgendeine Bewegung auszuführen, hatte sie das Gefühl, als würde sich der Nebel lichten, der sie seit heute morgen umhüllt hatte und durch den sie wie vor zwei Jahren auf einen großen kalten Raum schaute, in dem ein Edelstahltisch stand, der mit einem grünen Tuch verhängt war. Zwei Polizisten begleiteten sie damals. Ein Gerichtsmediziner stand am Tisch. Das Gefühl, etwas unwiederbringlich verloren zu haben, stieg in ihr auf. Es war das Gefühl, dass sie begleiten sollte, das ihr die Luft zum Atmen nahm. Heute war eine Phantasiewelt wieder erschienen mit Sorge, Angst aber auch Hoffnung und hatte sich für nur kurze Zeit an die Stelle des Empfindens der Einsamkeit gesetzt.
Sie kannte diese Zustände. Sie traten an den Orten gemeinsamer Erinnerung auf, die sie nun allein aufsuchte, um Antworten auf ihre Fragen nach dem Warum zu finden. Antworten, die sie seit zwei Jahren nicht bekam, auch nicht von jenem Beichtvater im Petersdom, der sie wiedererkannt hatte. Alles schien so sinnlos, insbesondere der Geisterfahrer, der sich das Leben nehmen wollte und ihnen auf der italienischen Autobahn entgegen kam. Er hatte Tim mitgerissen und sie verschont. Dieser Umstand war für sie am unerträglichsten. Er hatte sie allein zurückgelassen. Mehr Antworten gab es nicht. Sie schreckte plötzlich vom schrillen Klingeln des Telefons auf.
„Entschuldigen Sie, Seniora Kaller“, meldete sich die Dame an der Rezeption etwas zögerlich, „eine Familie Tim Kaller war schon einmal in unserem Hotel. Es hat uns keine Ruhe gelassen und wir schauten nochmals nach. Das war vor zwei Jahren.“
„Ja, ich weiß“, sagte Helen.
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