sah war etwas verwirrend. Sie sah genauer hin und doch war es schwer, das Gesicht der Duse zu beschreiben. Irgendwie war es einfach liebevoll und gleichzeitig streng, nicht so wie das Gesicht eines Menschen aber trotzdem so ähnlich.
Nase, Mund, Augen und Ohren waren vorhanden. Und wiederum doch nicht so richtig. Das Gesicht sah aus, als wäre eine Rauchschwade davor gezogen und wollte es so verdecken. Deshalb konnte Amelie im Gesicht der Duse keine einzige Falte sehen. Komisch, wieso wusste Amelie dann dass die Duse uralt war?
Vielleicht, weil die Duse Amelie alle Fragen beantworten konnte. Gerade die Fragen, die ihr Mutter und Vater nie beantworteten. Sie suchten bei Amelies gefühlsbetonten Fragen immer wieder nach Ausflüchten.
Mit der Duse war das ganz anders, denn wie die Duse erklärte, war spannend und wunderbar. Sie suchte für Amelie immer etwas aus, das gerade zu ihrem Gefühl passte.
Amelie konnte die Duse nicht immer sehen und doch war die Duse auf allen ihren Reisen bei ihr. Sie war in ihrem Land Hisian nie allein!
Woher wusste Amelie, dass dieses Land Hisian hieß?
Wie kam sie darauf? Niemand hatte ihr gesagt, dass es so hieß. Wie war es möglich, dass sie das Land einfach Hisian nannte?
Sie würde sicher erfahren ob sie richtig lag. Die Duse war bei ihr, ihr konnte nichts mehr geschehen. Amelie war sich ganz sicher, dass sie in Hisian richtig war.
Wortlos nahm die Duse Amelie mit zu einer von gleißendem Licht durchfluteten Wiese. Das Gras war saftig und so grün, dass Amelie ihre Augen nicht abwenden konnte. Sie war mit wundervollen Blumen übersät. Es duftete wunderbar. Amelie schloss die Augen und sog den Duft tief in ihre Lungen ein. Die Wiese wurde von großen Bäumen gesäumt. Die Gefühle, die in ihr aufstiegen, erzeugten sofort eine feste Bindung zu diesem Ort. Wie war das nur möglich? Eigentlich müsste Amelie doch unwahrscheinliche Angst haben. In Hisian, sie benutzte schon wieder dieses Wort, schien für sie alles so selbstverständlich und liebevoll zu sein. Sie fühlte sich vom ersten Moment an heimisch.
Was das nur bedeutete?
Amelie war vollkommen gefangen von dem Ort. Sie würde ihn sicher nie wieder verlassen. An so einem schönen Ort musste ein Mensch einfach bleiben.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen als die Duse Amelies Hand nahm und stumm zu den Bäumen hinüber zeigte.
Als Amelie hinüber sah, entdeckte sie am Rand der Wiese ein Reh. Die Duse schwebte mit ihr zu dem Reh hinüber.
Das Reh blieb stehen!
Eigenartig, warum lief es denn nicht weg?
Zu Hause wäre dieses scheue Tier längst im angrenzenden Wald verschwunden.
Die Duse hielt Amelies Hand fester und gemeinsam schwebten sie ganz nah zu dem Reh hinüber.
Amelie schwebte nun direkt vor dem Reh und sah in dessen sanfte Augen. Oh, diese liebevollen Augen. Das hatte sie nicht erwartet. Sie konnte direkt vor dem Reh schweben und in dessen Augen schauen. Der Kloß, der sich sofort in ihrem Hals bildete, erschwerte das Atmen. Sie sah etwas in diesen Augen, das sie tief berührte. Als die Gefühlsregung abgeebbt war besann, sich Amelie. Erst jetzt konnte sie sich wieder auf ihre Umwelt konzentrieren.
Bis zu diesem Augenblick war in dieser unwahrscheinlichen Welt noch kein Wort gesprochen worden. Das schien nicht notwendig zu sein. Scheinbar war es normal, dass zuerst die Gefühle ausgelebt wurden bevor Worte gebraucht wurden.
Amelie war ein Mensch und kam nicht ohne Worte aus. Sie war neugierig. Wie wohl das Reh hieß? Ohne darüber nachzudenken fragte sie das Reh nach seinem Namen.
„Ich bin Maike.“
Amelie war so verblüfft, dass sie nur kurz antworten konnte.
„Das ist aber ein schöner Name.“
Es war einfach toll, dieses Reh konnte mit ihr sprechen. Wer hätte sich so etwas bei ihr zu Hause vorstellen können? Dieses Land hielt scheinbar allerhand Überraschungen für Menschen bereit. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln schwebte Amelie neben Maike und der Duse weiter über die wunderschöne Blumenwiese. Ein angenehmer Duft umspielte die Drei und so kamen sie zu einem Bach, dessen glasklares Wasser um große, runde Steine floss.
Die Duse setzte sich auf einen Stein, der am Ufer des Baches lag. Sie schaute Amelie tief in die Augen. Ihre wohltuende Stimme löste in dem Mädchen ein unbeschreibliches Gefühl aus.
„Ich bin die Duse.“
Diese vier Worte klangen in Amelies Ohren wie Musik. Als hätte sie bis heute auf diese Worte gewartet, so fühlte sie sich in dem Augenblick.
Die Duse streckte ihre Hand einladend nach Amelie aus. Die Stimme der Duse hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Amelie sank ohne Scheu in die Arme der Duse. Sie schmiegte sich sogar voll Vertrauen hinein. Von diesem übermächtigen Gefühl getragen hatte sie nicht einen Augenblick überlegt. Als sie auf dem Schoß der Duse saß, verändertes sich ihr Gefühl grundlegend. In ihr Inneres kehrte eine Ruhe ein, die sie noch nie in ihrem Leben gespürt hatte. Ihr Kopf wurde klar und ihr Blick weitete sich. Die Farben ihrer Umgebung wurden noch intensiver als zuvor. Nun war Amelie in der Lage den Erklärungen der Duse ruhig und verständig zu folgen.
Die Duse erklärte ihr, dass sie nun in ihrem Land Hisian angekommen sei. Hier sei Amelie immer in Sicherheit, wenn die Welt für sie gefährlich, traurig, schmerzvoll oder auch beängstigend würde.
Amelie war wie elektrisiert.
Dieses Land heißt Hisian!
Das habe ich gewusst.
Woher?
Diese Gedanken schwebten unwillkürlich durch ihren Kopf und die Antwort auf ihre Frage ließ nicht lange auf sich warten.
„Jeder Mensch, der uns besucht, weiß, dass dies sein Hisian ist. Das Land, in dem alle Gefühle sein dürfen. In dem ein Kind seine Phantasie bestätigt bekommt. In Hisian erhältst du auf alle deine Fragen zu deinen Gefühlen eine Antwort. Wenn du eines Tages alles über die Welt und die Menschen gelernt hast, dann wirst du für immer in deinem Hisian einkehren.
Du wirst hier leben ohne Herzweh und alle peinigenden Gefühle der Welt. Niemand wird unfreundlich, gemein, neidisch, ungerecht, achtlos oder gar böse zu dir sein.
Ich bin in deinem Hisian für dich Begleiterin und Beschützerin. Ich werde dich zu Plätzen führen, die dir erklären warum die Menschen so sind wie sie sind und warum du auf der Erde bist.
Du, mein liebes Kind, bist ein ganz besonderer Mensch.
Deine Gaben müssen jetzt noch verborgen bleiben. Deine Umwelt ist für so einen Menschen wie dich noch nicht gerüstet.
Du bist zu mir gekommen, damit du in deiner Welt leben kannst und keinen größeren Schaden erleidest.
Die Reisen nach Hisian werden dich schützen und lehren, mit schwer zu verkraftenden Empfindungen umgehen zu können.“
Amelie saß auf dem Schoß der Duse und schaute sie interessiert an. Wie war es nur möglich, dass sie schon kurz nach ihrer Ankunft den Namen dieses Landes gewusst hatte?
Die Duse hob die Hand und strich über Amelies Kopf.
„Du hast eine enge Verbindung hierher. Deshalb hast du dich sofort heimisch gefühlt. Oder hattest du Angst bei deiner Ankunft hier?“
„Ich fühlte mich gut und aufgehoben.“ Amelie blinzelte. Ob sie auch von ihren Befürchtungen allein bleiben zu müssen mit der Duse sprechen konnte? Sie versuchte es einfach. Was sollte ihr hier schon geschehen?
„.Bevor du aufgetaucht bist, war dieses fremde Land schon sehr einsam für mich. Ich bin doch noch ein Kind!“
Die Duse lächelte und schaute zu den Bäumen hinüber.
„Du bist ein wenig zu früh zu uns gekommen. Ich konnte deshalb bei deiner Ankunft nicht sofort hier sein.“
„Ich war sehr unvorsichtig, ich weiß. Alle Gefühle, die mich warnten habe ich weggeschoben. Das war