Gordon Kies

FLUCHSPUR


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seinen Gedanken war er frei und rannte über Wiesen, pflückte Äpfel und spielte Fußball mit seinen Freunden. Er dachte an die Abende vor dem Kaminfeuer, mit einem Buch in der Hand. Sein Vater Pfeife rauchend im Sessel und seine Mutter die Melodie des Transistorradios summend. Es waren schöne Erinnerungen, auch wenn das, was Erinnerung ist, unter die Obhut der narrativen Transformation gerät. Dennoch, seine Gedanken an früher halfen ihm, an eine Realität außerhalb des Zaunes zu glauben. Dort im Lager gab es nichts weiter als Leid und Tod. Ein Wunder. Er hatte überlebt. Ein Wunder. Er hatte überlebt. Überlebt! Ruckelnd setzte sich der Zug in Bewegung. Auf dem Bahnsteig stand ein kleines Mädchen und ließ eine Fahrradfelge um ihre Taille rotieren. Sie lächelte und winkte Großvater zu. Großvater lächelte und winkte zurück.

      Die Fahrt wollte nicht enden. Röchelnden und stinkende Männer, manche an der Schwelle des Todes, klammerten sich mit jedem zurückgelegtem Kilometer an die aufkeimende Hoffnung. Großvater fiel es schwer sich vorzustellen, dass er den ganzen Weg, wenn auch in entgegengesetzte Richtung, mal zu Fuß gegangen war. Es schien ihm so lange her, so unwirklich, so falsch. Er lauschte den Gesprächen der Anderen, ihren Plänen, Sehnsüchten und Ängsten. Die Stimmung war alles andere als ausgelassen oder euphorisch, viel mehr erfüllte eine Melancholie, eine Unsicherheit die Wagons. Keiner konnte es so richtig glauben, der Hölle entkommen zu sein. Jeder rechnete unterschwellig mit einer erneuten Inhaftierung, aber keiner sprach es aus und als dann schließlich die Deutsche Grenze passiert wurde, brach tatsächlich Jubel aus.

      Ludwig schreckte hoch. Sein Herz raste. In seinem Kopf hämmerte ein blind wütender Schmerz. Sein Blick wanderte orientierungslos umher. Renate schnarchte. Die Nachwirkungen des Alptraums ließen seinen schweißnassen Körper erzittern. Er holte tief Luft, atmete langsam aus und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Er hatte einen seltsamen Geschmack im Mund. Sein Kopfkissen war voller Blut. Er stieg aus dem Bett und taumelte ins Bad. Sein Spiegelbild sah mitgenommen aus. In seinem Traum war er über Felder gestolpert. Die schweren Stiefel versanken im Schlamm und von hinten näherte sich die Gefahr. Eine gesichtslose Gefahr, mehr eine Wolke, dunkel und bedrohlich. Die Granateinschläge, die um ihn herum Dreck in die Luft schleuderten, machten ihm keine Angst, ebenso wenig die Panzer, die ein erbarmungsloses Tontaubenschießen veranstalteten. Sein Feind waren nicht die schreienden Soldaten in seinem Rücken, die ihre Bajonette drohend in seine Richtung reckten und im Gegensatz zu Ludwig zu fliegen schienen. Nein, es war die Wolke die sich in seinem Rücken näherte und seinen Körper mit Panik erfüllte. Kameraden stürzten zu Boden. Stahlhelme rotierten durch die Luft. Schneeregen peitsche Ludwig ins Gesicht. Seine rechte Wade zerfetzte und er wurde von den Beinen gerissen. Seine Finger gruben sich tief in den Schlamm. Er versuchte vorwärts zu kommen, zog sich über den Boden, wollte nur weg, weg von der Wolke, die sich zu einer Frau manifestierte und ihn schon fast erreicht hatte, ihre knochigen Finger nach ihm ausstreckte. Dann war er aufgewacht. Ludwig spuckte das rötlich trübe Wasser in das Becken und griff nach dem Handtuch. Sein Gehirn schlug gegen die Innenseite der Schädeldecke. Der Schmerz war entsetzlich. Es fühlte sich an, als hätte er einen Fötus im Schädel, dessen Geburt unmittelbar bevorstand. Er hielt die Luft an und presste die Lippen zusammen, bis sie farb- und gefühllos waren. Der Schmerz blieb. Seine Hände schlossen sich um seinen Kopf und hätte er gekonnt, er hätte ihn abgeschraubt und durch einen Neuen ersetzt. Er würde sich niemals mit dieser gottverdammten Migräne arrangieren. Er öffnete das Schränkchen und nahm die Kopfschmerztabletten heraus.

      - Ludwig?- Ja?- Bring mir ein Glas Wasser!- Ja.

      Sie nahm einen großen Schluck und drehte sich auf die Seite. Ludwig betrachtete ihren Rücken, setzte sich auf die Bettkante, zog die frischen Sachen, die er am Abend hingelegt hatte, an und ging hinunter in die Küche. Langsam wirkten die Tabletten. Er packte eine Banane und ein Marmeladentoast in die Brotdose, stürzte seinen Kaffee herunter und hastete zur Tür hinaus.

      In der Mittagspause aß er Erbsensuppe mit Bockwurst und befriedigte sich dann emotionslos auf dem Klo. Jemand hatte mit einem schwarzen Stift die Worte Heute wird wie morgen sein an die Wand geschrieben. Ludwig hätte beinahe gegrinst. Er zog den Reißverschluss hoch und ging zurück an die Arbeit.

      Am Ende des Tages war er arbeitslos. Seine heutige Bilanz: fünf Abschlüsse. Der Boss hatte gelacht.

      - Hier!

      Seine Frau hielt ihm eine Tamponpackung unter die Nase, kaum dass er das Haus betreten hatte.

      - Was?- Normal!

      Sie tippte mit dem rot lackierten Fingernagel auf die Packung.

      - Was?- Normal!- Ja, das sagtest du bereits, aber was meinst du?- Ich meine, dass ich die Größe Normal habe und nicht Super!

      Ludwig begriff.

      - Und deswegen der ganze Streit?

      Er konnte es nicht fassen.

      - Ja.- Ich kann es nicht fassen.- Findest du mich wirklich so fett?- Ich …

      Es klingelte an der Tür. Ludwig drehte sich um und drückte den Griff nach unten.

      - Herr Fuhrman?- Ja?- Ich habe eine Lieferung für sie.

      Der Gesichtsausdruck seiner Frau hatte sich in den letzten Minuten von ungehalten in ungeduldiges Ungehalten verändert.

      - Was soll das? Sind das etwa diese Klimaanlagen, die du verkaufst?- Ja.- Und was sollen die hier?- Ich habe sie gekauft.- Du hast was?- Sie gekauft.- Spinnst du? Warum?- Weil ich sonst meinen Job verloren hätte.- Bitte?

      Ludwig erklärte es ihr. Ihr Lachen klang ironisch.

      - Großartig, Ludwig! Einfach großartig! Ich kann es nicht fassen! Jetzt haben wir zwei Klimaanlagen und trotzdem niemanden, der Geld nach Hause bringt. Du bist und bleibst ein Versager!- Ich werde mir sofort …- Halt einfach die Klappe.

      Den Abend verbrachte er allein vor dem Fernseher. Es gab eine Reportage über Walhaie, die größten lebenden Fische, deren Haut mit fünfzehn Zentimetern die dickste aller Lebewesen ist. Tampon-Werbung. Er erfuhr, dass die verschiedenen Größen der Tampons nichts mit der Größe der Vagina zu tun hatten, sondern mit irgendeiner Durchflussmenge. Renate hatte noch viel zu lernen. Ihre Unwissenheit war bezeichnend. Sie kotzte ihn an. Er schaltete den Fernseher aus und ging duschen.

      Am nächsten Vormittag studierte er die Stellenangebote. In den wenigsten Fällen war er qualifiziert. Die zu erfüllenden Voraussetzungen beinhalteten zumeist eine abgeschlossene Lehre. Ludwig hatte keine abgeschlossene Lehre, so erübrigte sich die Frage nach seiner Teamfähigkeit und der Erfahrung im Umgang mit Excel und Word. Er rief bei einer Schlachterei an, aber die Stelle war schon vergeben. Die Kasse in einem Supermarkt war auch schon besetzt und im Freibad hatten sie keinen Bedarf an einem Bademeister, der nicht schwimmen konnte. Ergänzend teilten sie Ludwig noch mit, dass die Hitzewelle dem Ende entgegen ging. Mit Schadenfreude dachte Ludwig an seinen Ex-Chef. Eine Videothek wollte sich morgen bei ihm melden.

      - Ich halte es nicht aus, wenn du den ganzen Tag hier herumhockst!- Ich bin doch schon dabei, mir …- Widersprich mir nicht immer.- Aber …- Siehst du, schon wieder!- Ich wollte doch nur …- Und ich will doch nur, dass du dir einen neuen Job suchst und dafür sorgst, dass diese blöden Klimaanlagen zurückgehen! Der Wetterdienst hat übrigens Regen angekündigt, der Sommer geht zu Ende.

      Ludwig nickte nur, es war zwecklos. Zum Mittag gab es Erbsensuppe mit Bockwurst.

      Er war froh, das Haus verlassen zu können und nachdem er ein paar Mal umgestiegen war, stand er vor dem Haus von Madame Laluna. Auf der Fahrt hatte er sich gefragt, woher diese Popups auf dem Computer immer wussten, wo man sich befand und an welchen Produkten man Interesse hatte. Mysteriös. Es musste etwas mit dem Surfverhalten zu tun haben, auf welchen Seiten man nach welchen Produkten schaut … warum hieß es eigentlich „im Netz surfen“? Mit Logik hatte das nichts zu tun. Warum hieß ein Stuhl eigentlich Stuhl? Er fühlte sich … doof. Zu einer leichten Nervosität gesellte sich sein schmerzender Backenzahn. Er rieb sich die Wange und klopfte an die Tür.

      - Herr Fuhrman?- Ja.- Treten sie ein.

      Madame