B. Horst Feuer

Mit dem letzten Zug


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immerhin meinen, dass alles glatt, als ob so geplant verlaufen war: geordnet, gerade und ohne Abweichungen, verlässlich und voraussehbar: Karriere, Familie, Ansehen, alles bestens.

      Ja, so sahen es die anderen, aber er, er wusste, so glatt war das nicht gegangen. Er hatte anderes vorgehabt, er hatte anders leben wollen, hatte Pläne.

      Doch er ließ sich in die Pflicht nehmen, machte sich selbst zum Gefangenen. Er ließ sich gängeln und fühlte sich fremdbestimmt, benutzt, bedrängt. Seine Wünsche und Vorstellungen waren und blieben weggesperrt und mittlerweile schien dies alles ohne jede Aussicht auf Veränderung, was ihn besonders deprimierte.

      Ach, wie bewunderte er doch Menschen, die aus der Reihe tanzten und ihr eigenes Leben lebten. Solche, die in der Lage waren, auszubrechen, sich ihren Neigungen hinzugeben, ihre eigenen Interessen wichtig zu nehmen, und er bemerkte wohl, und es belastete ihn schon lange, dass er sich nach einem anderen Leben sehnte und ihn geheime Wünsche und Träume beschäftigten und quälten.

      Gerade auch seine Frau und seine Ehe gehörten zu den Lasten, die er zu tragen gezwungen war. Er fühlte sich ewig bevormundet, unfrei, ja, wie geknechtet. Der übermächtige Vater hatte die Braut aus gutem Hause damals ausgewählt. Die ständig kränkelnde Mutter ihn bedrängt: „Kind, ich könnte viel ruhiger sterben, wenn ich dich versorgt wüsste.“

      Er hatte sich gebeugt und litt unter der „Herrschaft“ seiner Gattin und ihn demütigten, wie er sich irgendwann eingestehen musste, die Tuscheleien und Anzüglichkeiten von Verwandten und Freunden. Warum hatte er es nie geschafft, auszubrechen, sich aufzulehnen?

      Er war ja als Ministerialbeamter in der großherzoglichen Verwaltung in Karlsruhe tätig und in dieser Aufgabe auch des Öfteren dienstlich im Ländle unterwegs. Zuständig für Gewerbe und Industrie ging es immer wieder um Gründungen oder Erweiterungen von Fabriken, um Genehmigungen und vieles andere mehr. Oft vereinbarte er daher Ortstermine, um durch Augenscheinnahme und persönliche Gespräche mit den Betroffenen sich ein Bild von den tatsächlichen Gegebenheiten zu machen. Und das war auch gut so, denn Papier ist ja bekanntlich geduldig und kann sich nicht wehren.

      Zudem gefielen ihm diese Termine ganz außerordentlich, er freute sich, das stickige, langweilige Präsidium verlassen zu können, im Land herumzukommen und Menschen zu treffen, frei zu sein. Draußen war er eine gewichtige Persönlichkeit, er wurde zuvorkommend behandelt und hofiert und das gefiel ihm, hier blühte er auf – es war halt ganz anders als daheim. Hier fand er Anerkennung und Bestätigung, ja, diese Dienstreisen taten ihm gut, sie waren wie willkommene Fluchten aus seinem eintönig empfundenen Dasein und aus der Regentschaft seiner Frau.

      Seit sie auch öfter krank war, steigerten sich ihre Schikanen, und er spürte in manchen Augenblicken, wie Wut und Zorn schon Spuren von Hass enthielten und ihn auch ängstigten.

      Mit den Weibern konnte er, wenn er allein und weg von Karlsruhe unterwegs war, ganz anders umgehen, und er spielte bisweilen ein gefährliches Spiel. Wenn das die Gattin gewusst hätte!

      Ja, er erschreckte bisweilen vor sich selbst, war sich wie fremd ob seines Leichtsinns und trotzdem waren die hinterher mit schlechtem Gewissen erzwungenen Vorsätze bis zur nächsten Reise und Versuchung meist wieder abgemildert und verdrängt.

      Auch gönnte er sich bei diesen Anlässen den reichlichen Genuss guten badischen Weines, den er sich in heimischer Umgebung, im Dunstkreis seiner Gattin, auch nicht erlauben durfte, sie war ja eine absolute Gegnerin des Alkohols und er musste gehorchen, obwohl er natürlich heimlich jede Gelegenheit nutzte.

      So war er auch schon zuvor zweimal in Zell gewesen. In diesem idyllischen alten Städtchen im Schwarzwald, bekannt als die ehemals kleinste Reichsstadt und durch die beiden Zeller Keramikfabriken. Das heißt, damals waren es noch zwei, später wurden sie vereinigt. Die beiden Firmen waren auch der Anlass seiner Besuche gewesen. Fabrikgründungen, Erweiterungen, Wasserleitungen, Stromerzeugung und andere Vorhaben waren in dieser Zeit an der Tagesordnung und die Behörden hatten viel zu tun.

      Das Städtchen liegt etwas abseits der Kinzigtalstraße von Gengenbach nach Haslach und abseits der Schwarzwaldeisenbahn. Gerade als er Zell einen Besuch abstattete, war kaum ein halbes Jahr vorher die Harmersbachtalbahn eingeweiht worden. Diese Nebenbahn verband den Bahnhof Biberach an der Schwarzwaldbahn mit Zell und Oberharmersbach am Ende des etwa zehn Kilometer langen Tales. So war es ihm also möglich, die gesamte Reise mit dem Zug zu bewerkstelligen.

      Eine zweite, zugegebenermaßen ganz private Aufgabe hatte ihm seine Gattin noch mitgegeben, klar, wie immer. Ihre jüngste Tochter, die Agathe, war im Begriff, ihren Oberinspektor zu heiraten, und sie beabsichtigten, ihr zur Hochzeit ein Porzellanservice zu schenken. Nun, die Zeller Manufaktur von Georg Schmider hatte damals einen ausgezeichneten Ruf und die Dekore, entworfen von Elisabeth Schmidt-Pecht, gehörten zu den beliebtesten ihrer Zeit, seine Gattin war davon sehr angetan. So hatte sie ihm aufgetragen, sich bei Schmider die ausgestellten Teile anzusehen und, wenn möglich, Muster oder doch wenigstens einen Katalog mitzubringen.

      Es war ein heller, sonniger Morgen, als er also mit dienstlichen und privaten Aufgaben versehen los fuhr. Schon früh, kurz nach sieben Uhr, bestieg er den Zug nach Offenburg, wo er gegen halb zehn Uhr ankam.

      Mit jeder Minute, die er sich von Karlsruhe entfernte, fühlte er sich wohler und freier und die Welt kam ihm so heiter und schön vor, so dass er in wohliger Vorfreude in sich versank:

      „Herrlich, ich muss die beiden Tage genießen.“ Er nahm es sich fest vor.

      Im Zug suchte er wie üblich ein Abteil mit möglichst angenehmer weiblicher Besetzung, um seine Freiheit sogleich erproben zu können. Tatsächlich fand er ein Coupé mit zwei Frauen, die einen attraktiven Eindruck machten. Nach höflicher Begrüßung begann er ohne Umschweife eine Unterhaltung und bald wusste er, dass Mutter und Tochter aus Mannheim und auf der Fahrt nach Freiburg waren. Während die Mama wohl gerade vierzig Jahre alt sein mochte, schätzte er das Mädchen auf sechzehn oder siebzehn Jahre. Es beteiligte sich kaum an der Unterhaltung und gab sich sehr zurückhaltend und schüchtern. Sie gefiel Finkner, er schielte immer wieder nach ihr, und er registrierte angenehme Gefühle.

      In Baden- Oos stiegen weitere Personen ein, und er war beinahe etwas ungehalten wegen der Störung und ebenso, als er in Offenburg den Zug verlassen und sich verabschieden musste.

      Nach knapp halbstündiger Fahrt kinzigaufwärts erreichte er dann Biberach, und nach langer Wartezeit – er hätte wohl in der gleichen Zeit die Zeller Untere Keramikfabrik zu Fuß erreichen können – dampfte er auf nagelneuer Strecke dem ehemaligen Reichsstädtchen entgegen.

      Er mochte die Gegend. Voraus sah er, da er auf der Innenseite des sich leicht in die Kurve neigenden Waggons saß, die in weitem Bogen ins Tal führenden Geleise. Eng am steil aufragenden Berg lag zur Linken die alte Entersbacher Papierfabrik und rechts, gegen Osten, der Gröbernhof, ein ehemaliges Rittergut, das mitsamt seinem mittelalterlichen Turm ganz von einer Mauer umschlossen war. Da die Fahrstrecke nach Zell wohl keine drei Kilometer betrug, kam fast gleichzeitig auch schon der Storchenturm, das Wahrzeichen der Stadt ins Blickfeld des Reisenden.

      Am neuen Bahnhof wurde er von Georg Schmider persönlich abgeholt und vorbei an dem ebenfalls neuen großen Postgebäude ins Städtle kutschiert, wo sie im „Adler“ ein Mittagessen einnahmen. Sie waren guter Stimmung, der Fabrikant glänzte in der Gastgeberrolle und mit reichlich Wein wurde auf die kommenden Verhandlungen angestoßen.

      Hernach fuhren sie beim ehemaligen Unteren Tor hinaus und hinunter zur Unteren Fabrik. Es war heiß geworden und die Sonne blendete grell und brannte fast hochsommerlich vom Himmel.

      Den Nachmittag verbrachte er mit erfreulich glatt verlaufenden dienstlichen Verrichtungen in der Fabrik und auch die freundliche Mitgabe einiger Muster für die Auswahl zur Hochzeit ihrer Tochter konnte er bewerkstelligen. Er ließ sich dann noch zu seiner Unterkunft kutschieren, wohl wissend, dass sich die entsprechende Ankunft dort positiv auf seine Reputation auswirken würde.

      Der Dienstreiseplan sah vor, dass er in Zell im Gasthaus „Sonne“ übernachten und am nächsten Morgen weiter nach Hornberg reisen sollte, wo bei der Firma Duravit ebenfalls Gespräche über Anträge zu führen waren. Die Termine waren postalisch und teilweise auch