auf, bevor er sich abwandte. Dabei war sein Kinn hart wie Fels.
„Alles wird gut. Zusammen schaffen wir das“, sagte sie und drückte seine Hand ein letztes Mal. Bitte, Gott, lass alles gut werden.
KAPITEL 4
In dem Moment, in dem Paige den Zwingerbereich betrat, brach der Lärm los. Lautes Gebell, das Klopfen von Hundeschwänzen auf den Boden und das Scharren von Pfoten. Der Geruch von Desinfektionsmittel und Hundefutter hing in der Luft. Sie zog ein wenig an der Leine und lockte den Boxerrüden, der es absolut nicht eilig hatte, wieder zurück in den Zwinger zu kommen.
„Hey, seid ihr gut drauf heute? Alle satt und bereit für einen Spaziergang? Sind wir aber heute wieder munter!“
Sie schenkte jedem Hund, an dem sie vorbeikam, einen Moment lang ihre Aufmerksamkeit und sprach ein paar freundliche Worte, bevor sie dann den Boxer wieder in seinen Zwinger sperrte. Bevor sie die Tür schloss, kniete sie sich noch kurz hin und kraulte ihn hinter den Ohren. Ihr wurde richtig schwer ums Herz, als sie seinen verlorenen Blick bemerkte.
„Ist ja schon gut, mein Kleiner. Wir finden bestimmt ein neues Zuhause für dich.“
Der Boxer war braun mit weißer Schnauze und weißen Lefzen, hatte Schlappohren und die für die Rasse typisch faltige Stirn. Sie hatten ihn vor vier Wochen auf der Bristol Road gefunden, völlig verhungert und ausgetrocknet. Inzwischen hatte er sich schon etwas erholt und zugenommen, seine Nase war hell und glänzte wieder, aber der leere Blick war geblieben. Sie hatte ihn sofort Bishop getauft. Nicht alle ihre Tiere bekamen einen Namen, aber schon als sie den Boxer das erste Mal gesehen hatte, war ihr dieser Name in den Sinn gekommen. Das passierte manchmal.
Etwas an seinem traurigen Blick erinnerte sie an Riley. Sie wünschte, sie hätte den Hund mit nach Hause nehmen können, denn sie hatte das Gefühl, ein Tier würde Riley guttun, doch sie wohnte zur Miete, und der Eigentümer erlaubte nicht mehr als ein Haustier. Das war auch wahrscheinlich ganz gut so, denn sonst hätte Paige bestimmt schon einen ganzen Zoo zu Hause.
In den letzten paar Tagen war Riley einigermaßen munter gewesen – aber er war auch unglaublich starrsinnig. Alles wollte er alleine schaffen. Natürlich war ihr klar, wie wichtig das für seinen Stolz und für seine Genesung war, doch wenn sie mit ansehen musste, wie er sich mit einer Aufgabe, die normalerweise eine halbe Minute dauerte, eine halbe Stunde abquälte, dann war das schwer auszuhalten.
Sie machte sich Sorgen um ihn, wenn er den ganzen Tag allein zu Haus war, doch die Familie schaute in regelmäßigen Abständen bei ihm vorbei, und auch mit Essen war er bestens versorgt; denn jede Frau im Umkreis von dreißig Kilometern hatte inzwischen entweder einen Auflauf oder einen Kuchen vorbeigebracht. Trotzdem hatte sie in den vergangenen paar Tagen ziemlich häufig bei ihm angerufen, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Ihm schien es nichts auszumachen, und für sie war es ungemein beruhigend.
Als sie jetzt auf die Uhr schaute, stellte sie fest, dass ihr letzter Anruf schon wieder ein paar Stunden her war. Sie verließ also den lärmenden Zwingerbereich und rief ihn von ihrem ruhigeren Büro aus an.
Beim dritten Klingeln nahm er ab.
„Hallo!“, sagte sie. „Was machst du denn gerade?“
„Dasselbe, was ich auch in den letzten paar Stunden gemacht habe“, antwortete er, und sie konnte hören, dass er schmunzelte.
„Also ich hatte gerade ein paar Minuten Zeit, und da hab ich gedacht …“
„Es geht mir gut, Paige. Du brauchst mich nicht stündlich anzurufen.“
„Das tu ich doch gar nicht! Ich rufe nur an, um dich zu fragen, ob ich dir heute Abend etwas aus dem Roadhouse zu essen mitbringen soll.“
„Nein. Du wolltest dich nur vergewissern, ob ich mich vielleicht mit den Gardinenschnüren erdrosselt habe oder so.“
„Jetzt werd mal nicht albern. Ich habe ja nicht mal Gardinen.“
„Paige!“
Okay, also gut, sie wich ihm – zumindest in Gedanken – nicht von der Seite. Aber was war, wenn in ihrer Abwesenheit tatsächlich etwas passierte? Was, wenn er stürzte und nicht wieder aufstehen konnte?
„Tut mir leid. Ich will dich wirklich nicht mit meiner Fürsorge erdrücken, aber ich mache mir eben Sorgen um dich. Ich wünschte, ich könnte es mir leisten, mir eine Weile frei zu nehmen.“
„Um was zu tun? Hier bei mir zu sitzen und mir zuzuschauen, wie ich meine Übungen mache? Ich kann mich gut selbst versorgen und komme prima allein zurecht. Außerdem habe ich immer mein Handy bei mir, und wenn ich etwas brauche, dann rufe ich dich an.“
Bei dem Gedanken, mehr loslassen zu müssen, spürte sie ein heftiges Ziehen im Bauch. Aber wahrscheinlich würde sie ihn in den Wahnsinn treiben, wenn sie ihn nicht losließ. „Versprochen?“
„Großes Ehrenwort.“
In dem Moment klingelte das Glöckchen über der Tür, und weil Lauren gerade Mittagspause hatte, musste Paige sich kurzfassen. Außerdem machte sie sich eine innere Notiz, nach der Arbeit auf dem Heimweg im Roadhouse vorbeizufahren.
Als Paige nach vorne zum Empfang ging, stand Margaret LeFebvre dort am Tresen.
Sie sah frisch aus wie immer. Ihr modischer Kleidungsstil und ihre elegante Figur erinnerten Paige immer an Diane Keaton. Margaret war die Besitzerin des Primrose Inn und außerdem im Vorstand des Tierheims.
Obwohl die Frau sie freundlich anlächelte, hatte Paige ein mulmiges Gefühl, als sie sie sah.
„Margaret. Das ist ja eine Überraschung. Wie geht es Ihnen denn?“
Margaret nahm ihre Brille ab, sodass sie an einer Kette um ihren Hals baumelte, und antwortete: „Gut, meine Liebe. Das Hotel läuft gut, und meine Tochter hat gerade ihr Baby bekommen.“
„Ach, da gratuliere ich herzlich! Das ist Ihr viertes Enkelkind, oder?“
„Ja. Aber es ist das erste Mädchen.“ Sie holte ihr Handy aus der Tasche, zeigte Paige ein Foto von dem schlafenden Baby und dann noch zwölf weitere unterschiedliche Aufnahmen.
„Ach, ist die niedlich“, sagte Paige immer wieder.
„Sie heißt Sophia Grace, nach meiner Mutter. Das hätte ihr bestimmt gefallen.“
„Was für ein schöner Name. Sie freuen sich doch bestimmt auch darüber, oder?“
„Ja, wirklich. Ich wünschte nur, sie würde in der Nähe wohnen, aber ich fahre demnächst hin, um sie zu besuchen. Allerdings nur für ein paar Tage. Durch das Hotel bin ich ziemlich angebunden, aber ich liebe meine Arbeit nun mal.“
Jetzt legte sie den Kopf ein wenig auf die Seite und sagte: „Als ich gerade in der Stadt war, habe ich erfahren, dass der Callahan-Junge wieder zurück ist.“
„Ja, das stimmt. Es ist schön, ihn wieder da zu haben.“
„Er hat es ja anscheinend ziemlich schwer gehabt.“
„Ja, aber er hat einen hervorragenden Physiotherapeuten und wird sicher bald wieder auf den Beinen sein. Im Moment wohnt er bei mir.“
„Ja, das habe ich auch gehört. Seien Sie bloß vorsichtig. Solche Traumata können viel anrichten bei einem Menschen. Der Sohn einer Freundin von mir war ein völlig anderer Mensch, als er aus dem Irak zurückkam. In sich gekehrt, depressiv, wütend und gewalttätig. Er ist mit dem Gesetz in Konflikt geraten und sitzt jetzt im Gefängnis. Es ist wirklich ein Jammer.“
Paige richtete sich bewusst etwas auf, während sie sich gleichzeitig daran erinnerte, wie sie quer durch den Raum geschleudert worden war. Aber das war etwas anderes. Riley hatte geschlafen und nicht gewusst, was