Anabella Freimann

ROSAROT war ihre Brille …


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      Ich kann fürwahr davon ein Lied singen

      Also schauen wir ruhig unser „Lebens-Zeichenblatt“ ab und zu kritisch an und sagen uns: Diese Linie sollte ich zukünftig möglichst vermeiden und an dieser Skizze könnte ich weiterarbeiten. Aber bitte vorher die sprichwörtliche ‚rosarote Brille‘ abnehmen.

      Wenn dann doch der eine oder andere ‚Strich‘ daneben geht – was soll’s! Das Leben geht weiter, aber eben ohne Radiergummi.

      Und mal ehrlich, wenn es ginge, ich meine, das „Begebenheiten-Wegradieren“, dann gäbe es sicher keine Radiergummis in den Geschäften zu kaufen, oder sie wären zu teuer – oder ein Konzern hätte sich längst des Radiergummivertriebs bemächtigt.

       ROTE ROSEN

       Es kann Dir jemand die Tür öffnen, aber hindurchgehen musst Du selbst. Konfuzius

      Gestern hatte ich einen sehr schlechten Tag. Schon am Morgen kam ich nur mit Mühe aus dem Bett. Neun Uhr sollte der Reha-Sport im Nachbarort beginnen. Ich hatte keine rechte Lust, aber da ich schon das letzte Mal ‚krank‘ gewesen war, konnte ich doch nicht schon wieder kneifen? Also raus aus den Federn und erst mal frühstücken. Vielleicht würde dieses Mal alles für mich besser ablaufen. Dann schnell Tasche packen, die Hörgeräte nicht vergessen und das Auto starten.

      Ich kam als Letzte an. Gut, einer muss der Letzte sein. Aber mir war das peinlich. Denn alle standen schon in der Halle, schrieben sich in die Teilnehmerliste ein und legten ihre Matten und Trainingsgeräte bereit. Sie waren guter Dinge und schienen sich auf das Training zu freuen. Ich aber nicht.

      Im Stillen dachte ich nur das Eine: Hoffentlich geht die Stunde schnell vorbei und hoffentlich macht mein Gehör heute mit. Ich mag diese riesengroße Halle ohne die geringste Schallisolierung sowieso nicht. Seltsamerweise scheine ich die einzige zu sein, die dieser Umstand stört.

      Dann begann das Training. Für mich persönlich spricht Steffi zu leise. Auch deshalb hatte ich gleich anfangs darum gebeten, den Platz ganz vorn neben ihr einnehmen zu dürfen mit dem Hinweis auf meine Hörprobleme. Doch das nützt nicht viel. Ich muss mich in dieser Stunde immer derart konzentrieren, dass Kopfschmerzen vorprogrammiert sind. Ich versuche krampfhaft, Steffi alle Anweisungen vom Mund abzulesen. Wenn sie mir den Rücken zuwendet, funktioniert das natürlich nicht. Und ich möchte auch keine Sonderstellung einnehmen. Christine, die neben mir steht, sagt: „Guck dir doch einfach ab, was die anderen machen.“ Zwei, die die Situation wohl mitbekommen haben, mischen sich ein. „Was du bloß immer hast – mache einfach mit und wenn’s falsch ist, dann ist das doch egal!“ Das kann ich nicht akzeptieren. Denn ich möchte doch alles richtig machen. Herr Tinnitus meldet sich nun auch noch mit seinen lauten Tönen. Ich weiß, es ist das alte Lied, das sich durch mein ganzes Leben zieht. So bin ich nun mal erzogen worden: Allem gerecht werden, was man von mir verlangt, alles hundertprozentig erledigen, nur nicht auffallen und so weiter.

      Ich fragte mich wieder einmal wie schon so oft: Warum können die anderen alles so gut verstehen? Warum stehe ich bei solchen Kursen immer ‚außen vor‘?

      Schon so oft habe ich versucht, andere Kurse wie zum Beispiel Tai Chi oder Englisch bis zu Ende durchzustehen. Keine Chance. Nun also wieder das gleiche Muster. Die Trainerin, die wohl meinen Kampf mit den Tränen erkannt hat, meint: „Sieh das doch mal als Herausforderung an!“ Leicht gesagt.

      Eine Stunde lang versuche ich nicht zu weinen. Doch die Musik arbeitet dagegen. Ich verlasse die Halle vorzeitig, weil ich mich einfach meiner Tränen wegen vor den anderen schäme.

      Zu Hause wollte ich mich ablenken und versuchte, mich bei Secondlife einzuloggen. Das ist für mich immer Entspannung pur. Doch es gelang mir nicht. Ein Update hilft vielleicht? Fehlanzeige. Ich kam nicht hinein in meine virtuelle Welt.

      In dieser Situation rief meine große Enkelin an. Sie versuchte mich zu trösten, aber sie hatte mit ihren lieben Worten wenig Erfolg.

      Am Abend war dann alles wieder einigermaßen in Ordnung – in Secondlife und in meinem Kopf ebenfalls. Internet- und Seelenprobleme ade. Und der Tinnitus schwieg.

      Am nächsten Tag belohnte ich mich selbst mit einem ausgedehnten Saunabesuch. Es war wieder wie immer Entspannung pur. Schöne Aufgüsse warteten auf mich und dann ab ins Tauchbecken – einfach herrlich!

      Als ich nachhause kam, stand ein großes Paket in meinem Zimmer. Ich öffnete es mit Spannung. Mein Mann stand neben mir. „Was kann das sein? Eigentlich erwarte ich keine Lieferung von Otto oder Heine oder vom Gärtner Pötschke!“

      Gleich würden wir es wissen! Es kamen Blumen zum Vorschein! Rote Rosen waren es. Zwanzig wunderschöne rote Rosen nebst einer Flasche Prosecco und einem ganz lieben Gruß mit einem Kompliment für mich. Aber nirgends fand ich einen Hinweis, wer der ‚Rosenkavalier‘ gewesen war.

      Mein Mann schaute höchst kritisch auf die Gaben und verzog sich schweigend mit gerunzelter Stirn aus meinem Zimmer und anschließend in den Garten. War das Eifersucht? Seine Gedanken hätte ich lesen mögen: Wer wird wohl meiner Frau diese Rosen geschenkt haben? Ausgerechnet Rosen, die Blumen, die ich ihr zu ihrem runden Geburtstag aus Unachtsamkeit nicht schenkte?

      Ich selbst dachte da schon an einen bestimmten stillen Verehrer. Ich rief ihn an, aber er meinte: „Schade, dass ich nicht auf diesen Gedanken gekommen bin.“

      Nach einer Stunde kam mein Mann grollend nachhause, im Kopf, wie er mir später sagte, einige Namen von Personen, denen er diese noble Geste zutrauen würde …

      Die Lösung kam. Aber ganz anders als erwartet. Kein heimlicher Verehrer war der Spender gewesen. Schade? Nein! Die Rosen hatten mir zwei Frauen geschickt, und zwar unsere Enkelin und unsere große Tochter. Sie verrieten mir später: „Weil es dir so schlecht ging, dachten wir uns diese Überraschung aus!“

      Danke! Ich liebe euch beide … und bin sehr glücklich, dass es euch gibt!

       EIN WARTEZIMMER

       Lächelt, wenn ihr nichts zu lachen habt. Klaus Klages

      Es ist schon lange her, seitdem ich das letzte Mal ein Wartezimmer betreten habe und auf einem der Stühle Platz nehmen musste. Nun, ‚musste‘ ist das falsche Wort. Ich begleite nur meinen Mann, ich bin sozusagen Anteil nehmender Statist.

      Ich schaue mich um und grüble über den Namen des Raumes nach, in welchem wir nun schon eine Weile sitzen. Wartezimmer. Nomen est Omen. Ja, es passt, denke ich, sonst würde es ja nicht diesen Namen tragen.

      Also warten wir und vertreiben uns die Zeit. Mein Mann verfolgt das Patientenfernsehen mit den Arztinfos auf dem großen Monitor. Ich schaue weg. Bilder von Hautkrebsformen wechseln mit kaputten Gelenken und einer Werbung für Medikamente gegen Arterienverkalkung und so weiter. Das muss ich nicht sehen.

      Alle Stühle sind besetzt. Ab und an wird ein Patient aufgerufen. Die im Flur Stehenden rücken schrittweise nach.

      Ich schaue mir die Gesichter der Wartenden genauer an und versuche darin zu lesen. In der Mehrzahl sind es ältere Menschen. Ein jüngerer Mann ist in seine Lektüre vertieft und schreckt auf. Aus dem Lautsprecher ertönt eine schlecht zu verstehende, in meinen Ohren unangenehm klingende Männerstimme: Herr Fritsche bitte ins Behandlungszimmer. Herr Fritsche – oder lautete der Name Frisch – oder Fisch – meine Ohren streikten wieder einmal – verstaut mürrisch sein Buch im Rucksack und steht zögernd auf. Entweder wurde er gerade bei einem besonders spannenden Kapitel gestört oder er mag eigentlich gar nicht hören, was der Arzt ihm zu sagen hat. Oder ihm gefällt die knarrende Mikrofonstimme mit dem anschließenden langen Piepton ebenfalls nicht.

      Ich setze meine heimlichen Beobachtungen fort. Die restlichen Patienten – mehr Männer als Frauen – haben fast alle eines gemeinsam: Denselben Gesichtsausdruck. Sie starren stupide entweder auf den Boden oder an die gegenüberliegende Wand. Was wird wohl in ihren Köpfen vorgehen? Ich frage mich: Haben sie existenzielle Sorgen oder