gewürdigt werden, per Dekret vom 17. Mai 1917 – für seine „loyale und … ehrende Haltung im Interesse der staatlichen Flüchtlingsfürsorge“.26
Mit dem Erfolg waren freilich auch die Neider nicht weit. Bosel wird von Konkurrenten angeschwärzt, bei der Staatsanwaltschaft trudeln Anzeigen ein. Bosel soll damals sogar mit seiner Verhaftung gerechnet haben. Man hat ihm vorgeworfen – und diese Anschuldigung gab es auch noch Jahre später –, dass er sich durch gefälschte Rechnungen, fingierte Liefermengen und einen illegalen Handel mit Kleidervorräten finanziell bereichert hätte. 1926 ist Bosel deswegen sogar verklagt worden, von Lotte Seidmann, der Gattin des ehemaligen Oberbuchhalters der niederösterreichischen Statthalterei. Sie gab an, Sigmund Bosel habe ihren Ehemann Max unter Drohungen gezwungen, während des Krieges die Geschäftsbücher zu fälschen. Dadurch sei ihr Mann letztlich in der Psychiatrie gelandet, behauptete Frau Seidmann, die von Bosel eine lebenslängliche Rente und den Ersatz der Behandlungskosten forderte, die für ihren Gatten im Wiener Sanatorium „Baumgartnerhöhe“ angefallen waren.27
Am Tag der zweiten Verhandlung konnte Seidmanns Rechtsanwalt die angekündigten Belastungszeugen allerdings nicht aufbieten. Außerdem ließ sich der bekannte Psychiatrieprofessor Julius Wagner-Jauregg, der über den Zustand des Patienten Auskunft geben hätte sollen, wegen einer beruflichen Verpflichtung entschuldigen.
Als dann auch noch der Gerichtspsychiater zu dem Schluss kam, dass Bosel – selbst wenn er den Buchhalter wirklich psychisch unter Druck gesetzt hätte – unmöglich der Auslöser für Seidmanns Irresein gewesen sein konnte, brach die Klage inhaltlich zusammen. Der Richter handelte daraufhin eine salomonische Lösung aus: Geld von Bosel aus Mitleid für Lotte Seidmann, wenn diese ihre Vorwürfe gegen Bosel fallen lässt. Als Seidmann zögerte, redete ihr der Richter gut zu: „Sie sind eine arme, bedürftige Frau, es ist besser, Sie ziehen die Klage zurück und nehmen von Bosel das Geld, das er Ihnen als Almosen freiwillig gibt.“ Schlussendlich nahm Lotte Seidmann ihre Klage weinend zurück und Bosel war durch den Fall Seidmann nicht länger angepatzt.28
Eine weiße Weste hat Bosel auch 1918 behalten, als die kaiserlichen Justizbehörden der niederösterreichischen Statthalterei wegen mutmaßlicher Verdachtsmomente gegen Bosel auf den Zahn fühlen. Böse Zungen behaupten etwa, dass die Schuhe, die er während des Krieges lieferte, nur Pappendeckelsohlen gehabt hätten. Nach einer Überprüfung der Geschäftsunterlagen werden die Voruntersuchungen aber bald wieder eingestellt. Auch die Kriegswirtschaftliche Kommission findet keine Anhaltspunkte für schmutzige Geschäftspraktiken oder unredliche Abrechnungen: „Gegen Herrn Bosel sind wohl eine Menge Anschuldigungen erhoben worden, konkreter Art aber keine. Jede Anzeige sei zum Gegenstande der Untersuchung gemacht worden. Die Erhebungen haben aber zu dem Abschluss geführt, dass die Tätigkeit des Genannten eine verdienstliche war.“29 Bis heute liest man da und dort, dass Sigmund Bosel einer der größten österreichischen Heereslieferanten gewesen sei. Handfeste Belege gibt es dafür keine. Es kann allerdings gut sein, dass Bosel neben seinen Flüchtlingslager-Lieferungen auch Bekleidungsartikel für Soldaten herbeigeschafft hat – und zwar Rucksäcke und sogenannte „Stiefelfetzen“, die anstelle von Strümpfen oder Socken in der kämpfenden Truppe gängig waren. Diese Stiefelfetzen waren leicht waschbare Stofflappen, mit denen sich die Soldaten die Füße eingewickelt haben, bevor sie in die Stiefel geschlüpft sind.30
Angeblich hat Bosel sogar Kasernenkantinen mit Lebensmitteln und Getränken versorgt. Bosel „beschränkte sich … keineswegs auf Lieferungen, die in seine ursprüngliche Branche fielen, sondern lieferte schlechthin alles“, wusste der Bankfachmann Egon Scheffer zu berichten. „Den Gegenwert ließ er sich damals schon, mitten im Kriege, auf auswärtige Konti namentlich bei Schweizer Banken gutschreiben.“31
Dass Sigmund Bosel seine gesamten Gewinne in die Schweiz gebracht haben soll, hört sich übertrieben an. Denn er hat schon während des Krieges angefangen, in Wien Immobilien und Wertpapiere zu kaufen. Es ist aber durchaus möglich, dass er einen Teil seiner Profite in Schweizer Franken angehäuft hat, die später wegen der Inflation in Österreich Gold wert waren. Wie viel Sigmund Bosel durch seine Flüchtlingslager-Geschäfte verdient hat, lässt sich nicht mehr sagen. Einen Anhaltspunkt haben wir jedoch: Bosel hat sich 1926 vor einem Parlamentsausschuss damit gebrüstet, dass er im letzten Kriegsjahr knapp 12 Millionen Kronen an Steuern gezahlt habe. Zieht man die damals geltenden Steuersätze in Betracht, lässt sich Bosels Einkommen zu Kriegszeiten grob geschätzt auf mehr als 100 Millionen Kronen veranschlagen. Sigmund Bosel ist mit Sicherheit bereits zu Kaisers Zeiten ein Multimillionär gewesen. Der Erste Weltkrieg und die damit verbundene Flüchtlingskrise waren sein Sprungbrett zum Reichtum.32
Ein voller Bauch macht keine Revolution
Im Juni 1918 bäumt sich die schwer angezählte Monarchie an der italienischen Front ein letztes Mal militärisch auf. Doch die Offensive scheitert. Ab diesem Moment geht es mit der Kampfmoral der Armee bergab, die Wirtschaft hat für den Nachschub keine Kraft mehr. Das Habsburgerreich hat den Untergang vor Augen.33
In Wien und anderen Großstädten ist die Versorgung der Bevölkerung schon seit Monaten katastrophal. Weil es zu wenig Brotgetreide gibt, wird das fehlende Mehl aus Kastanien oder Bohnen gewonnen und mit Sägespänen gestreckt. Die kriegsbedingte Misere ist längst ideologisch aufgeladen. Schuld an der Teuerung seien die „Kapitalisten“, wettert die Arbeiter-Zeitung, weil diese durch Heereslieferungen, gehortete Warenvorräte und Importgeschäfte während des Krieges Wuchergewinne eingefahren hätten. „Hätte uns jemand vor drei Jahren gesagt, was wir heute für Fleisch oder für Gemüse, für ein Gewand oder für ein Paar Schuhe bezahlen werden, hätten wir ihn für einen Wahnsinnigen gehalten.“34
Hohe Preise und verdorbene Lebensmittel sind immer wieder der Zündfunke für Hungerkrawalle und Streiks. Während der Schwarzmarkt blüht, erleben die hungrigen Städter eine böse Überraschung. Mitte Juni 1918 wird in Wien die Brotration von einem Tag auf den anderen um die Hälfte gekürzt. Um die ohnehin karge Ration von 200 Gramm Fleisch pro Woche zu ergattern, haben sich die Menschen bereits nächtelang anstellen müssen. Mehr als ein Ei pro Woche war sowieso nicht mehr drinnen. Und nun soll es nur mehr halb so viel Brot geben wie bisher? Die Bevölkerung kocht vor Wut auf die Obrigkeit.35
Während sich eine explosive und teils revolutionäre Stimmung breitmacht, kommt es im Juni 1918 in der Wiener Polizeidirektion zu einem Sesselrücken. Kaiser Karl bestellt Johann Schober zum neuen Befehlshaber über die Exekutive in der Hauptstadt. Der gelernte Jurist aus Perg in Oberösterreich soll als kaisertreuer Ordnungsmacher notfalls hart durchgreifen. Seit sich die Bevölkerung aber für Lebensmittel stundenlang anstellen muss, hat auch die Exekutive ein Problem. Sie kann nicht durchgehen lassen, dass Polizisten einerseits die Lebensmittelausgabe überwachen sollen und andererseits selbst vor Geschäften Schlange stehen müssen. Schober will daher vom Innenministerium die Erlaubnis für einen eigenen Polizeiversorgungsbetrieb. In seinem Antrag lässt der junge Polizeichef keinen Zweifel an seiner Lagebeurteilung: Polizisten mit einem leeren Magen sind ein Sicherheitsrisiko, weil sie bei Straßenschlachten gegen streikende Arbeiter, Plünderer oder Unruhestifter und in emotional aufreibenden Einsätzen gegen aufgebrachte Hausfrauen versagen könnten. Nur wenn die Polizei rundum bestens versorgt sei, könne die Exekutive „ihren aufreibenden Dienst weiter voll und ganz versehen, mögen auch noch so schwere Zeiten kommen“.36
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