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Jens Böttcher
Der Tag des Schmetterlings
Short Stories
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 9783865065988
© 2009 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelfoto: Getty Image
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
1. digitale Auflage 2013: Zeilenwert GmbH
INHALT
Wenn die Hand des Lebens schwer ist und ohne Lied die Nacht, dann ist es Zeit für Liebe und Vertrauen. Und wie leicht wird doch die Hand des Lebens, wie voll Gesang die Nacht, sobald man alles liebt, allem vertraut.
Khalil Gibran
Herr Meier
Der EC 306 ratterte mit gleichmäßiger Geschwindigkeit über das Gleis. Zugbegleiterin Daniela Kurtz hatte soeben das Abfahrtsignal in Bremen gegeben und begonnen, die Fahrkarten der Zugestiegenen zu kontrollieren und abzustempeln. Sie mochte ihren Job, auch wenn er gelegentlich öde und anstrengend war. Und sie wusste, dass sie besser mal zehn Kilo abnehmen sollte. Das hatte ihr sogar der Arzt empfohlen. Es sei besser für die Gelenke, da sie ja bei der Arbeit so viel auf den Beinen war. Das stimmte. Außerdem fühlte sie sich nicht mehr so schön wie früher. So richtig störte sie das allerdings nicht.
Schon eher, dass ihr am Abend meistens ganz schön die Füße wehtaten. Und eben der Rücken. Aber es war trotzdem ein Glück, dass sie den Job hatte. Thorsten verdiente als Getränkemarktleiter allein einfach nicht genug. Zum Leben für beide hätte es schon gereicht, aber mehr als ein einziger günstiger Urlaub pro Jahr wäre nicht drin gewesen, wenn Daniela nicht monatlich ihren guten Tausender nach Hause gebracht hätte.
Noch gut drei Stunden bis Köln, dann würde sie den Zug wechseln, wieder zurück bis nach Hamburg fahren und den Feierabend ganz gemütlich zu Hause verbringen. Sie freute sich darauf, immerhin kam heute Abend ihre absolute Lieblings-Castingshow. Sie würde sich aus- und den Fernseher anknipsen. Und sich dazu selbst eine Tüte Paprikachips servieren.
Der Tag würde bis dahin nicht mehr sehr stressig werden. An einem Dienstag wie diesem war nicht viel los. Die Ferienzeit war gerade vorbei und dann schienen alle Deutschen ja immer für ein paar Wochen kollektiv genug vom Reisen gehabt zu haben. Es war für die Deutsche Bahn die ruhigste Zeit des Jahres. Günstig war für Daniela heute außerdem, dass sie nur für den hinteren Teil des Zuges zuständig war. Wagen 1 bis 6. Normalerweise war der Einser ja sowieso immer fast leer. Heute war das zwar irgendwie anders, denn ausgerechnet er, der momentan letzte Wagen vor der hinteren Lok, war recht ordentlich gefüllt, dafür waren aber die anderen fünf kaum besetzt.
Daniela stempelte sich routiniert durch die Waggons. In Wagen 2 versuchte ein Fahrgast, sie in eine Diskussion zu verwickeln. Aber auf so etwas ließ sie sich ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr ein. Er hatte schließlich seine Bahncard vergessen. Selbst schuld. Musste er eben nachzahlen. Das war nicht ihr Problem. Anfangs war es ihr schwergefallen, ständig den Missmut einiger Fahrgäste zu schultern. Aber irgendwann war ihr Fell ganz automatisch dick genug geworden, und seither scherte sie sich nicht mehr um die Befindlichkeiten der Unausgeglichenen und Dünnhäutigen. Daniela hatte sich verändert. Sie war irgendwie eine andere geworden, aber sie vermisste ihr altes Ich eben auch nicht sonderlich. Routine ist viel besser, als sich ständig zu viele Gedanken über unwichtige Kleinigkeiten machen, dachte sie.
Als sie endlich Wagen 1 erreichte, seufzte Daniela leise. Jetzt noch die letzten Abteile kontrollieren, dann würde sie ein kurzes Päuschen machen können. Sie schob die Tür zu dem vorletzten Abteil auf.
„Guten Tag, Ihre Fahrkarten bitte“, sagte sie mit fester Stimme.
Die vier Fahrgäste zupften synchron ihre Tickets hervor und zeigten sie nacheinander, demütig und pflichtbewusst wie ein katholischer Kinderchor. Routine. Für Daniela ein Moment wie zehntausend andere.
„Danke sehr, gute Fahrt weiterhin.“
Das letzte Abteil. Sie schob die Tür auf.
„Guten Tag, Ihre Fahrkarten bitte.“
Auch in diesem Abteil waren vier Fahrgäste. Ein älteres Ehepaar, eine junge, auffallend hübsche und doch irgendwie übertrieben aufgetakelte Blondine und ein grau melierter Endvierziger in Hut und Mantel. Der Platz direkt vorn rechts und der Fensterplatz hinten links, neben diesem Herrn, waren frei.
Die hübsche junge Frau nahm ihr Ticket aus ihrer Handtasche und reichte es Daniela zügig, ohne dabei den Blick von ihrem Modemagazin zu nehmen. Bei dem älteren Ehepaar war es nicht so einfach. Der Mann durchsuchte ganz hektisch seine Taschen, konnte die Fahrkarten aber nicht gleich finden und wurde sekündlich nervöser.
„Einen Moment noch ...“, sagte er und griff zum dritten Mal vergeblich in die Innentasche seines grauen Sakkos.
„Natürlich“, sagte Daniela.
Innerlich zählte sie bis zwanzig, um die Aggression im Zaum zu halten, die sie gelegentlich überkam, wenn sie ungeduldig wurde. Er würde die Karten schon gleich finden. Solche Leute fuhren nie schwarz.
„Was is denn nu, Rolf?“, sagte die Ehefrau des Suchenden vorwurfsvoll. „Du hast sie doch vorhin da eingesteckt, da in deine Innentasche, das hab ich doch gesehen.“
„ Ja, aber da sind sie ja scheinbar nicht“, sagte der Mann nervös und unterwürfig. Dann startete er die Suche von vorn, noch mal alle Taschen.
„Ro-holf, nu mach doch, du hältst ja den ganzen Verkehr auf ...“
„