Erfahrung auszuweichen. Dass der Gedanke, wenn er sich lebendig halten will, in die Transzendenz der eschatologischen Hoffnung münden muss, wird in einer erkenntnistheoretischen Überlegung behauptet. Es ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der spezifischen Weise, in der Adorno Philosophie und Theologie verbindet, dass er dabei nicht, wie Kant und Bloch, von der praktischen Vernunft ausgeht, sondern wahrheitstheoretisch zu argumentieren sucht.46
3.2 Wahrheitsbegriff und eschatologische Hoffnung
Das zentrale Argument besagt, dass die Wahrheit dauern muss, um Wahrheit zu sein. Es bleibt allerdings unklar, wo hier die Beziehung zum individuellen Tod sein soll. Der Gedanke, »der Tod sei das schlechthin Letzte«, ist nach Adorno »unausdenkbar«. »Wäre der Tod jenes Absolute, das die Philosophie positiv vergebens beschwor, so ist alles überhaupt nichts, auch jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner läßt mit Wahrheit irgend sich denken. Denn es ist ein Moment von Wahrheit, daß sie samt ihrem Zeitkern dauere«47. Nun lässt sich daraus, dass ein mit einem Zeitindex versehener empirischer Satz zu jedem Zeitpunkt, an dem er geäußert wird, gültig sein muss, sicher nicht schließen, dass er in alle Ewigkeit muss ausgesagt werden können. Dies würde bedeuten, dass jede relative Wahrheit Element eines absoluten Wissens sein muss, das an keinen Zeitindex mehr gebunden ist. Möglicherweise ist der Begriff eines absoluten Wissens notwendig, um die Relativität des menschlichen Wissens zu erkennen; daraus folgt aber nicht – so hatte schon die kantische Kritik der theoretischen Vernunft argumentiert – dass es das Subjekt dieses Wissens gäbe.
Jedoch bedeutet Adornos Argument vielleicht nicht mehr, als dass es für die Anstrengung der Erkenntnis notwendig ist, für jemanden zu schreiben, der, wenn die Mitwelt taub und die Nachwelt womöglich noch unzugänglicher wäre, nur ein »eingebildeter Zeuge«48 oder gar einzig der totgesagte Gott sein kann.49 Und das ist schwerlich völlig falsch: Denn jeder Versuch, etwas zu sagen, das nicht den gängigen Konventionen sich unterordnet, geht an die Grenzen der Sprache, enthält ein individuelles Moment, das nur missverstanden werden kann, und wendet sich so an einen imaginären, unbekannten Hörer. Der Gedanke einer so verstandenen Dauer ist freilich nicht mehr als die subjektive Bedingung dafür, die Anstrengung der Erkenntnisarbeit auf sich zu nehmen; in diesem Sinne kann der Satz verstanden werden, ohne Transzendenz würde sich Erkenntnis zum absolut Gleichgültigen.50
Allerdings ist noch völlig ungeklärt, warum dieser Gedanke der Transzendenz den Sieg über den Tod implizieren muss. Geschichtlich hat das Judentum Jahrhunderte lang den Begriff des transzendenten, ewigen und allwissenden Gottes gekannt, ohne die Überwindung des menschlichen Todes daran zu knüpfen. Und logisch gesehen fordert die Aufbewahrung eines endlichen Wissens im Absoluten nicht die Erhaltung seines Trägers, nicht einmal dann, wenn wir einen anderen Begriff von Wahrheit und Erkenntnis geltend machen als jenen objektiven, der alle Beziehung auf die subjektive Lebendigkeit des Erkennenden eliminieren möchte. Einen solchen Wahrheitsbegriff müssen wir bei Adorno voraussetzen; es ist der von Affinität im Unterschied zum klassischen der adaequatio.51 In ihm soll am Objekt, das den Vorrang hat, Nichtidentität hervortreten können, deren Organ im Erkennenden der begriffslose Teil am begrifflich identifizierenden Denken ist: mimetischer Ausdruck. Adornos Wahrheitsbegriff misst sich am »Äußersten, das dem Begriff entflieht«, nämlich an der sinnfernen Schicht des Somatischen als dem Schauplatz des Leidens. Alles andere als der Versuch, ihm Ausdruck zu verleihen, ist für Adorno »vorweg vom Schlag der Begleitmusik, mit welcher die SS die Schreie ihrer Opfer zu übertönen liebte.«52 Es ist demnach »das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, Bedingung aller Wahrheit.«53 Erst ein Denken, das in sich Drang, Bedürfnis, Verlangen wahrzunehmen vermag, beginnt unter Wahrheit den Ausdruck des Leidens zu verstehen; und erst wenn Wahrheit so verstanden wird, erweist sich Dauer als ihre notwendige Eigenschaft: Sie wird zum Eingedenken, das die Erinnerung an vergangenes Leid bewahren soll.
Auch in dieser Version ist das Beweisziel nicht erreicht. Es bleibt unklar, warum die Voraussetzungen, unter denen die Hoffnung des Eingedenkens säkularisiert werden musste, nicht mehr gelten sollen, wenn aus ihr ein Begriff mimetisch-expressiver Wahrheit entwickelt wird. Vor allem wäre zu bedenken, dass die Hoffnung des Eingedenkens, ob eschatologisch oder geschichtlich gefasst, eine Hoffnung einzig um der Vergangenheit willen ist. Dies bedeutet nicht, dass Hoffnung aus dem Vergangenen kommt, wie Adorno interpretiert,54 sondern dass wir nur für die Toten – die nicht mehr hoffen können – hoffen dürfen.55 Hoffnung für die eigene Person wäre als Ausgangspunkt egoistisch und würde vor allem die Aktualität der messianischen Befreiung negieren: Wenn jeder Augenblick die kleine Pforte sein kann, durch die der Messias kommt,56 brauchen wir uns um unsere Zukunft keine Gedanken zu machen. Andererseits: Wenn das Totengericht und die Auferstehung glaubhaft sind, ist das menschliche Gedächtnis vergangenen Leidens überflüssig.
3.3 Der Schlussaphorismus der Minima Moralia: Erkenntnis und Erlösung
Auch der Schlussaphorismus der Minima Moralia behauptet einen engen Zusammenhang zwischen Erlösungshoffnung und Erkenntnis: »Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.«57 Einzig im messianischen Licht erscheint die Welt so, wie sie erkannt werden muss, aber von selbst sich nicht zu erkennen gibt, nämlich zerrissen, diskontinuierlich, bedürftig. »Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Licht daliegen wird.«58 Erlösungshoffnung gibt sich hier als ihrer Sache gewiss, ihr Gehofftes erscheint als Quelle des Lichts, in dem allein die Dinge wirklich gesehen werden können, mithin als objektive Bedingung ihrer Erkennbarkeit. Freilich wüsste man gerne, woraus – angesichts von Verzweiflung – eine solche Gewissheit sich speist. Zunächst jedenfalls ist »Erlösung« etwas Subjektives, ein Gedanke, eine Hoffnung, ein »Standpunkt«: »Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellten.«59 Der Konjunktiv verweist auf ein Gesetztsein, etwas Fakultatives; als »Standpunkt« ist die Erlösung ein »Als ob«. Was als nicht bloß Subjektives gewiss ist – »das Licht, das von der Erlösung her auf die Welt scheint« – ist unmittelbar zuvor eine subjektive Veranstaltung. Wäre die Erlösung objektiver Grund der Erkenntnis, bräuchte sie kein Standpunkt zu sein. Insofern zeugt der ganze Aphorismus von dem, was der Schlusssatz ausspricht: dass »die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig«60 ist.
Nach Adorno ergibt sich diese Gleichgültigkeit erst aus den Schwierigkeiten, ja der Unmöglichkeit, den Standpunkt der Erlösung überhaupt einzunehmen. Erkenntnis im messianischen Licht ist »das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat.«61 Der Standpunkt der Erlösung ist deshalb unmöglich einzunehmen, weil er etwas Subjektives ist, errungen und abgetrotzt, eben »Standpunkt« ist. Damit aber ist der Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Erlösung wieder zerrissen. Weil »jede mögliche Erkenntnis« dem Bestehen »abgetrotzt« werden muss, ist sie ihm auch verfallen und befindet sich nicht auf einem Standpunkt jenseits desselben. Verständlicherweise hat Adorno auch nie versucht, Erkenntnisse, die er, wie die Marx’sche Tauschwertanalyse, als verbindlich anerkennt, auf den Standpunkt der Erlösung zurückzuführen.
3.4 Ausweitung des Bildverbots und die Unmöglichkeit von Praxis
Die Unmöglichkeit, den Standort der Erlösung einzunehmen, ergibt sich auch aus einem anderen Motiv, dem der Ausweitung des Bildverbots. Dessen allgemeine Begründung ist die Verfallenheit der Vorstellungen und Gedanken ans Bestehende, ihre nähere Bedingung die Unmöglichkeit revolutionärer Praxis, die für Adornos als die wahre Praxis gilt. In der Bibel – zuerst 2. Mose 20, 4 f. – bezieht sich das Verbot eindeutig auf den Versuch, Gott in menschlichen Werken anschaulich zu machen und anzubeten. Sinn des Bildverbots ist die Betonung des Abstands zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen, das Wissen um seine Transzendenz und Unvergleichlichkeit. Gott spricht zu den Menschen, aber er zeigt sich nicht. »Seine Worte