und anderen nach der Befreiung Frankreichs von deutscher Besatzung gegründet hatte, in mehreren Folgen ein Text unter dem Titel »Die Frau und die Mythen« erschienen. Von diesem Text, der in der 2. Hälfte des 1. Buches wiederauftaucht, nahm bekanntlich das gesamte Unternehmen des Anderen Geschlechts seinen Ausgang. Auch damals muss es schon ein Echo auf diese Publikation gegeben haben, denn Beauvoir schrieb Anfang August 1948 an Nelson Algren, ihren amerikanischen Geliebten – die Briefe sind im Sommer 1999 in deutscher Übersetzung erschienen –: »Ich höre mit Freuden, dass der schon veröffentlichte Teil einige Männer zur Weißglut gebracht hat. […] Offenbar sind sie an ihrem empfindlichen Punkt getroffen worden«.46
Aber die eigentliche Lawine wurde erst im Mai 1949 losgetreten, als in derselben Zeitschrift, und zwar ab Seite 1, ein Kapitel aus dem 2. Band erschien. Titel: »Die sexuelle Initiation der Frau«. Nachdem Beauvoir im 1. Band Fakten und Mythen gegenübergestellt hat, zeichnet sie im 2. Band die für ihre Zeit typische geschlechtsspezifische Lebenschronologie nach, um zu demonstrieren, wie von der Wiege an der nach existenzialistischer Auffassung durch nichts vorherbestimmte Mensch zu dem abgerichtet wird, was die Gesellschaft unter der »Frau« versteht. Dabei spielt die Einführung in die Sexualität eine wichtige Rolle. Beauvoir beschreibt in diesem Kapitel unter anderem mit kaum zu übertreffender Genauigkeit den Koitus: schon auf der 2. Seite ist die Rede von der »Sensibilität der Vagina«, von »Zuckungen der Klitoris« und dem »männlichen Orgasmus«.
Das ist zu viel! »Wir haben literarisch die Grenzen des Widerlichen, die Grenzen zum Brechreiz erreicht«, schrieb der bekannte katholische Romancier und Intellektuelle François Mauriac am 30. Mai 1949 in der konservativen Tageszeitung Le Figaro, die vom gesamten französischen Bürgertum gelesen wurde, also von denjenigen, die man damals als »die Rechte« bezeichnete. Und er stellte folgende Frage: »Ist das von Mme Simone de Beauvoir behandelte Thema im Inhaltsverzeichnis einer seriösen philosophischen und literarischen Zeitschrift am Platze?«
Für Mauriac, der als Leitartikler das zum Ausdruck brachte, was viele dachten, hat der Text Beauvoirs, publiziert in einer Zeitschrift, die eine Vordenkerposition beanspruchte, Symptomcharakter. Er treibt nämlich das auf die Spitze, was er als Tendenz innerhalb der französischen Nachkriegsliteratur beobachtete, eine Tendenz, die er in Saint-Germain-des-Prés verortete und für die vor allem Namen wie Sartre, Henry Miller, Jean Genet, die Psychoanalyse oder der Surrealismus standen, allesamt Kürzel für entfesselte Sexualität. Beauvoirs Text gibt den Ausschlag dafür, dass er zu einer Meinungsumfrage aufruft. Er bittet die Leser und Leserinnen der jüngeren Generation, zu folgender Frage Stellung zu nehmen:
Glauben Sie, dass der systematische Rückgriff in der Literatur auf die Kräfte des Instinkts und den Schwachsinn ebenso wie die Ausbeutung der Erotik, die dieser Rückgriff begünstigt hat, eine Gefahr für das Individuum, für die Nation und für die Literatur selbst darstellen und dass bestimmte Personen und bestimmte Doktrinen dafür die Verantwortung tragen?
Die Zuschriften, die Mauriac erhielt, haben ihn nicht unbedingt glücklich machen können. In den 38 Briefen, die von Ende Juni bis Ende Juli 1949 in mehreren Folgen des Figaro littéraire abgedruckt wurden, ist im Übrigen häufiger von Sartre die Rede, dem seit der Veröffentlichung einer Novellensammlung 1939 ein solider Ruf als Pornograf vorausging: Nach vorherrschender Meinung hatte er die Schriftsteller André Gide und Marcel Proust als literarischer Sittenstrolch und Jugendverführer abgelöst. Aber selbst im Hinblick auf ihn ist der Erfolg der Umfrage eher mager. Auch das, was Mauriac für »verbale Ausschweifungen« Beauvoirs hält, reißt sehr wenige vom Hocker. In einem einzigen Brief ist von ihrer »pseudogelehrten Obszönität« die Rede. Es wird deutlich, dass die französischen Intellektuellen sich in einem Generationen-Umbruch befinden. Ein damals noch junger Autor, der später im literarischen Leben Frankreichs eine gewisse Rolle spielen sollte, bezeichnete Mauriacs Frage schlichtweg als prüde. Mauriac habe keine Ahnung von der jungen Generation, die sich mit Begeisterung ihr Leben aufbaue, ein Leben, in das Sigmund Freud oder Simone de Beauvoir hin und wieder Klarheit gebracht hätten, ohne dass es ihnen gelungen wäre, es zu beschmutzen. Eine der wenigen Frauen, die sich überhaupt zu der Meinungsumfrage äußerten – die öffentliche Debatte ist noch weitgehend Männersache –, war die Romanautorin Françoise d’Eaubonne, die im französischen Feminismus vor den siebziger Jahren aktiv werden sollte. Sie erkennt haarscharf, dass die Ursache des Skandals das christliche Sündenbewusstsein ist, das seit dem 4. Jahrhundert zunehmend mit der »Sünde des Fleisches« identifiziert wurde, und erteilt dem theologischen Terror eine Absage.
Der genannte Umbruch bedeutet für viele junge Intellektuelle in der Tat eine Loslösung aus der Vormundschaft der Kirche, die als normative Instanz vor fünfzig Jahren in Frankreich wie in Deutschland eine wesentlich größere Rolle im Leben der Einzelnen spielte als heute. Wer sich von der Amtskirche löste, konnte aber durchaus Christ bleiben wie Jean-Marie Domenach, der spätere Direktor der einflussreichen linkskatholischen Zeitschrift Esprit, dessen Stellungnahme zu der Meinungsumfrage damals großes Aufsehen erregte. Er fordert nämlich, nach den Entdeckungen der Psychoanalyse und den Ergebnissen des Kinsey-Reports (der gerade in französischer Übersetzung erschienen war) die Kategorien des Normalen und des Anormalen auf dem Gebiet der Sexualität einer Revision zu unterziehen. Und er verteidigt Beauvoir, die inzwischen dem skandalträchtigen Kapitel über die Sexualität noch eins draufgesetzt hatte, indem sie in der Juni-Nummer der Temps modernes das Kapitel über die »Lesbierin« und den Anfang des Kapitels über die Mutterschaft veröffentlichte, in dem es ausschließlich um die Abtreibung geht. Jean-Marie Domenach schreibt:
Ich glaube, dass die Christen, die Simone de Beauvoir unter dem Vorwand der Erotik und der Obszönität angreifen, sich völlig irren. Weder Gelächter noch Missbilligung sind als Reaktion angemessen; vielmehr müssen wir aufmerksam zuhören und dürfen uns nicht drücken, denn letztlich hängt es stark von uns und unserer Kirche ab, dass diese Unruhe und diese Suche, soweit sie authentisch sind, aufrichtig angegangen und nicht pervertiert werden.47
Der Verfasser dieses Zitats muss nicht nur von Mauriac selbst Schelte einstecken, sondern auch von dem jungen Rechtsintellektuellen Pierre de Boisdeffre, der in Mauriacs Augen die Inkarnation einer noch sittlich unverdorbenen Jugend war. Er schreibt:
Der Erfolg des Anderen Geschlechts bei Tunten und sexuell Erregten jeder Couleur bringt Jean-Marie Domenach um den Schlaf, behauptet er doch allen Ernstes, in der unbezahlbaren Pseudo-Gelehrtheit dieses Fräuleins eine »Lehrveranstaltung über normale Sexualität« zu sehen.48
Der Verfasser trauert bodenständigen alten Traditionen nach, einem Gleichgewicht in den lateinischen Ländern, in denen die Liebe, wie er schreibt, der natürlichste aller Akte war.
Das Erscheinen des 1. Bandes, der weniger Anstoß erregte als die vorveröffentlichten Kapitel des 2. Bandes, beruhigt vorübergehend die Gemüter. In einem Interview mit Alice Schwarzer hat Beauvoir übrigens später die Vorveröffentlichung als Ungeschicklichkeit bezeichnet. Man kann also annehmen, dass es kein bewusster Werbetrick war. Die Illustrierte Paris-Match druckt Auszüge aus dem 1. Band in zwei Augustnummern ab. »Eine Frau ruft die Frauen zur Freiheit auf«, lautet die Schlagzeile, und in der Einleitung ist zu lesen:
Simone de Beauvoir, Leutnant Jean-Paul Sartres und Existenzialismus-Expertin, ist zweifellos der erste weibliche Philosoph, der in der Geschichte der Männer erscheint. Es kam ihr zu, aus dem großen Abenteuer der Menschheit eine Philosophie ihres Geschlechts zu extrahieren.
Man erfährt im Übrigen, dass der Band eine Banderole mit der Aufschrift »Die Frau, das unbekannte Wesen« trug, und man sieht Beauvoir und Sartre auf einem Photo im Cafe de Flore sitzen.49
Ob der Skandal nun gewollt war oder nicht: Er führt dazu, dass allein in der ersten Woche 22.000 Exemplare von Band 1 verkauft werden. Dass das Buch viel gelesen wird, heißt aber längst nicht, dass man es auch verstünde. Ein Anglistik-Professor der Sorbonne, der sich in den Pariser Medien ein Zubrot verdient, sitzt ziemlich ratlos vor Beauvoirs Prosa, die ihm zu objektiv-kalt erscheint: Wie bloß soll das Lesepublikum »erschüttert« werden, wenn eine Frau, die über die Frau schreibt, dies nicht »als Frau« tut?50 Einem Literaturwissenschaftler zufolge, der sich ebenfalls ein Zubrot verdient, schreibt Beauvoir gerade, um sich von der Erniedrigung, Frau zu sein, zu befreien. Aber er hält das Unternehmen für aussichtslos, denn,