Frank Rudolph

Yan Chi Gong


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      Die Übungen, die der Hauptgegenstand dieses Buches sind, bewirken, wenn sie mit der gebührenden Konzentration ausgeführt werden, einen tiefen meditativen Zustand. Meditation ist nichts »Rationales«, das mit Worten erklärt werden kann, denn sobald man Worte verwendet, entfernt man sich von genau dem Punkt, der die Meditation eigentlich erst ausmacht. Meditation schafft einen Zustand der Leere im Geist, in dem keine Gedanken mehr vorhanden sind. Man könnte sagen, der Körper geht zurück zu seinem natürlichen Zustand, in dem nur Instinkte herrschen. Meditation bedeutet das Vergessen des Ichs. Durch leidenschaftliches, hingebungsvolles Üben der Bewegungen des Yàn Chí Gōng erreicht man diesen Zustand ganz von selbst. Dadurch wird es möglich, dass man sich wirklich im »Hier und Jetzt« befinden kann. Das ist für gewöhnlich sehr schwer für uns, da unsere Gedanken ständig mit der Vergangenheit oder der Zukunft befasst sind und wir den Augenblick kaum wahrnehmen. Das Leben findet jedoch im Augenblick statt. Erreicht man einen Dauerzustand der inneren Stille, in dem der Geist immer präsent ist, wird das Herz ruhig wie fließendes Wasser sein. Ein solcher Zustand wird im Chinesischen als píngjìng rúshuǐ (平靜如水) bezeichnet, und er gilt als das höchste Ziel, das in der Kampfkunst erreicht werden kann.

      Auch wenn eine direkte Beschreibung dieses wortlosen Zustandes nicht möglich ist, gelang es dem daoistischen Philosophen Zhuāngzǐ (莊子, 4. Jh. u. Z.), ihn mit Hilfe von Geschichten sehr gut darzustellen, von denen zwei hier wiedergegeben werden sollen:

       Der Betrunkene fällt vom Wagen

       Ein stark betrunkener Mann saß hinten auf einem Pferdewagen und stürzte bei schneller Fahrt herunter. Obwohl er sehr hart fiel, starb er nicht. Er wurde nicht einmal verletzt. Dies war so, weil der Mann überhaupt nicht wusste, dass er auf einem Pferdewagen saß. Genauso wenig wusste er, dass er von einem Pferdewagen herabgefallen war. Die Angst um sein Leben war in seinem Herzen nicht vorhanden. Deshalb konnte er sich nicht zu Tode stürzen.

       Betrunkene Menschen sind wie Menschen, die ihr Ich vergessen haben. Menschen, die sich selbst vergessen haben, werden, weil sie sich vergessen haben, den Schutz der Natur bekommen.

       Der Frosch und der Tausendfüßer

       Ein Tausendfüßer lief vergnügt, geschmeidig und flink über eine Wiese. Ein Frosch, der ebenfalls gerade auf der Wiese war und sich sonnte, erblickte ihn. Ganz erstaunt von dieser Kreatur mit so vielen Beinen, sprang der Frosch auf und hüpfte dem Tausendfüßer hinterher. Mit frechem Mundwerk und voller Neugier fragte der Frosch: »He, du hast so viele Beine und bewegst dich damit. Ich habe hingegen nur vier Beine. Sag mir doch einmal, welchen Fuß du bei so vielen Beinen zuerst bewegst?«

       Als der Tausendfüßer diese Frage hörte, hielt er inne und sagte kalt zum Frosch: »Ich weiß nicht, welchen Fuß ich zuerst bewege. Ich darf und will es auch überhaupt nicht wissen. Bitte tu mir den Gefallen und stelle nie wieder einem Tausendfüßer eine solche Frage.«

      Die Dinge in der Natur geschehen auf natürliche Weise. Auch unsere Handlungen verlaufen so, solange wir nicht versuchen, sie zu analysieren. Wenn wir über etwas nachdenken, um darüber zu urteilen, werden wir entgegen der Natur handeln und die natürlichen Fähigkeiten verlieren. Wir Menschen können viele Dinge von ganz allein – atmen, leben, kämpfen –, ohne dass man sie uns beibringen muss. Aber durch unsere Sozialisierung verlieren wir unsere Instinkte und unsere Natürlichkeit, weshalb es so schwierig ist, genau dann zu essen, wenn man hungrig ist und zu schlafen, wenn man müde ist. Gedanken sind immer eine Störung des Natürlichen. Meditation bedeutet, die Gedanken zu beseitigen und zur ursprünglichen Leere zurückzukehren, aus der einst alles entstanden ist, der Mensch wie letztendlich auch das gesamte Universum.

      Es ist wichtig, die Übungen des Yàn Chí Gōng so langsam wie möglich auszuführen, bis hin zur Bewegungslosigkeit. Dadurch erreicht man körperlich und geistig den besten Trainingseffekt. Der Kopf bleibt vollkommen frei, ohne Gedanken. Nähme man Zeit und Raum nicht mehr wahr, so wäre dies vermutlich der Zustand der vollkommenen Freiheit, nach dem so viele Menschen verzweifelt suchen. Diese Art des Meditationszustandes kann man durch langsame Bewegungen erreichen. Zeit ist so kostbar wie flüchtig. Wir können sie nicht beeinflussen, nur die Wahrnehmung von ihr können wir verändern. Zeit ist auch ein Gefühl. Albert Einstein beschrieb diese Tatsache mit den folgenden Worten: »Eine Stunde mit einer schönen Frau nimmt man anders wahr, als eine Stunde mit einer alten Matrone.« Obwohl die Zeitstunde von der Länge her bei beiden Frauen dieselbe ist, so sind die Wahrnehmung davon und das Gefühl dafür verschieden.

      Wir Menschen leiden oft unter Zeitdruck, und unser ganzes Leben »leidet« gewissermaßen an zeitlicher Begrenztheit. Wenn es uns gelingt, die empfundene Zeit für uns zu verlangsamen, bis wir sie gar nicht mehr wahrnehmen, erreichen wir ein freieres Leben. Das liegt in erster Linie an uns selbst, nicht so sehr an unserem Umfeld. Und es kann durch geeignete Bewegungen erreicht werden. Deswegen spricht man auch von Meditation durch Bewegung. Bei der Übung des Yàn Chí Gōng sowie bei allen anderen Gōng-Übungen geht es darum, dem Menschen ein anderes Bewusstsein zu vermitteln, es geht um körperliche und geistige Gesundheit und Freiheit. Ein geistig gesunder und innerlich freier Mensch wird sich keine Sorgen mehr darum machen, was andere von ihm denken. Er wird erkennen, dass ein Slogan wie »Zeit ist Geld« einzig und allein zu gesundheitsschädlicher Hektik antreibt. Man will die Zeit nicht verschwenden, weil auf diese Weise Geld verschwendet wird. Daraus ergibt sich, dass man alles schnell schaffen will, um die Arbeit so schnell wie möglich fertig zu bekommen und somit mehr Geld zu verdienen. Aber abgesehen davon, dass auf diese Weise oft die Qualität der Arbeit leidet und man letztendlich draufzahlen muss, verliert das Leben durch die Eile seinen wahren Geschmack und seinen Sinn. Es ist wie im Straßenverkehr. Wenn jeder versucht, mit seinem Auto so schnell wie möglich zu fahren, entstehen immer mehr Unfälle und es entstehen immer häufiger Staus. In vielen Ländern hat man bereits erkannt, dass man die Geschwindigkeit begrenzen muss, um mehr Sicherheit und einen besseren Verkehrsfluss zu erlangen.

      Viele Menschen wollen alles auch deshalb schnell erledigen, um mehr Freizeit zu bekommen, benötigen dann jedoch ihre Freizeit vor allem dazu, sich von den Folge der Hektik notdürftig zu erholen. Es gibt Fast-Food, das schnelle Essen, welches auf Dauer unseren Organismus nachhaltig schädigt, wohingegen liebevoll zubereitetes Essen, das gemächlich verzehrt wird, unserem Körper gut tut. Wir wollen in jungen Jahren soviel wie möglich schaffen, um dann im Alter endlich Zeit für die »wichtigen Dinge im Leben« zu haben. Doch das funktioniert so nicht. Wer in der Jugend nicht lernt, auf »richtige« Weise zu leben, dem bringt das Alter nur Krankheit und Verdruss, und es ist dann nichts weiter als ein Warten auf den Tod.

      So lange wir leben, so lange können wir uns verbessern. Die alten xiákè Chinas betonten, dass man zu allen Zeiten ein Krieger ist. Das bedeutet, egal ob man jung oder alt ist, ob man 25 oder 85 Jahre zählt, dass man keinen Wert auf Zahlen wie das Alter oder den Kontostand legt und dass man sich nicht nach den gesellschaftlichen Regeln definiert. Man behält immer einen freien ungebunden Geist und arbeitet ständig an seinen körperlichen Fähigkeiten. Dazu bedarf es lediglich der richtigen Einstellung und geeigneter Trainingsmethoden. Ein Hauptziel des Gōng-Trainings ist die Zeitvergessenheit im Geist und im Herzen. Zeitvergessenheit ist die höchste Form des Glücks und ein Weg zum Erreichen der Ewigkeit.

      Kosmologische Vorstellungen hatten in der chinesischen Kultur, besonders im Daoismus und im Neokonfuzianismus, einen hohen Stellenwert. Die chinesische Lehre von der Gesundheit und der Kampfkunst befasste sich stets auch mit Dingen wie der Alchemie und der Astrologie beziehungsweise der Astronomie. Die chinesischen Tierkreiszeichen sind heute auch in der westlichen Welt in Mode gekommen. Wir möchten an dieser Stelle versuchen, dem Leser ein Verständnis von der chinesischen Ur-Lehre zu vermitteln. Dadurch soll auch ein besseres Verständnis