Astrid Seehaus

Alexa und das Zauberbuch


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sondern er war darüber hinaus auch nett. Sehr nett sogar! Gisela mochte ihn, aber es schien, dass er Cynthia ebenso blind anhimmelte wie alle anderen Jungen der Schule.

      Lächerlich machen kann ich mich auch ohne Publikum, dachte sie gereizt und verbarg ihre Nervosität hinter dem Beugen und Strecken ihrer Beine.

      Alexa saß derweil versteckt hinter Blättern in einem nahe stehenden Baum. Der langmähnige Engel namens Cynthia war auch ihr sofort aufgefallen. Diese Art Mädchen kannte sie. Wenn sie etwas wollten, verbissen sie sich wie gierige Hunde in ein Stück Fleisch. Man musste sehr vorsichtig sein und sie nicht reizen. Auch wenn sie üblicherweise nicht zu der Zunft der Hexen gehörten, waren ihr Ausbrüche oft sehr gefährlich, denn sie besaßen eine nicht zu unterschätzende Bauernschläue, getarnt hinter Schönheit. Und Schönheit blendete.

      Alexa kannte viele, die sich von Schönheit blenden ließen. Nicht so der hoch aufgeschossene, schlanke Junge, der verkniffen die anderen Jungen beobachtete. Auch wenn Alexa es nur als vages Gefühl wahrnahm, dieser Junge war anders als die anderen. Er ließ sich nicht blenden. Sie bezweifelte, ob er überhaupt manipulierbar war. Jeder war ihrer Meinung nach manipulierbar. Ein paar schmeichelnde Worte hier, eine Lächeln dort und schon hatte man den anderen in der Hand. Den da schien so etwas nicht zu kümmern.

      Die Sportler hatten in der Zwischenzeit ihre Trainingsjacken abgestreift und standen in ärmellosen T-Shirts beisammen, um ihre Oberarmmuskeln spielen zu lassen und sich scherzhafte Bemerkungen zuzuwerfen. Sie weitereiferten um Bewunderung.

      Gisela sollte heute als erste klettern und bekam vom Kursleiter Bastian das Seil gereicht. Doch anstatt den Sicherheitsgurt umzulegen, krümmte sie sich und jammerte: „Mir ist schlecht. Ich glaube, ich habe heute Morgen etwas Falsches gegessen.“

      „Hab ich es euch nicht gesagt!“, bemerkte Cynthia deutlich hörbar. „Alles nur Gerede, von wegen Kletterrekord.“

      Jurek sah zu Boden, die anderen feixten. Gisela wünschte sich, ganz woanders zu sein. In diesem Moment bedauerte sie zutiefst, dass Alexa keine Hexe war. Sie hätte sie auf Knien angefleht, sie sofort in einen Karpfen zu verwandeln und in den Weiher zu werfen.

      Und Alexa, die einen guten Platz hatte, um alles verfolgen zu können, fühlte sich bestätigt: Engelsgleiche Schönheiten brachten grundsätzlich Ärger. Sie beschloss, Gisela mit einem kleinen Hilfezauber unter die Arme zu greifen.

      Gisela versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Angetrieben von Cynthias Bemerkung, setzte sie den ersten Fuß auf die Felsenstufe, nachdem sie den Gurt auf Bastians unfreundliche Aufforderung hin widerwillig angelegt hatte. Unmotiviert griff sie nach einem Eisenring und zog sich langsam und ebenso lustlos auf den ersten Felsvorsprung. Jeder Knochen ächzte. Am liebsten hätte sie aufgegeben. Wie sie es überhaupt beim letzten Mal geschafft hatte, die Wand zu besteigen, würde sie ihr Leben lang nicht begreifen.

      Sportlehrer Bastian trieb sie an. „Na Gisela, dann zeig mal unseren Zuschauern, zu welchen Leistungen unser Schlusslicht fähig ist!“

      Zu gar keiner, dachte Gisela und fühlte sich wie an die Wand genagelt.

      „Dieses Talent muss zum Glänzen gebracht werden“, sagte Bastian freundlicher.

      Wollte er sie veräppeln? Von welchem Talent sprach er? Dem Talent, sich lächerlich zu machen? Zaghaft fragte Gisela: „Darf ich aufhören?“

      „Na-na-na, so schnell geben wir aber nicht auf, Gisela, nicht wahr?“ Bastians Brust schwoll vor Stolz an. „Ich habe dich für die Freeclimbing-Meisterschaft angemeldet.“

      Gisela verschluckte sich und hustete erbärmlich. Aber nicht in diesem Leben!

      Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, grinste Bastian selbstgefällig und erwiderte: „Doch, doch, meine Beste. Ich habe heute Morgen bereits alles telefonisch geregelt. Du bist dabei und wirst unsere Schule vertreten.“

      Das einzige, was ich mir gleich vertreten werde, ist mein Fuß. Gisela starrte nach unten, keine fünfzig Zentimeter trennte sie vom sicheren Boden. Wenn doch nur diese Höhenangst nicht wäre. Ich werde jetzt einfach runterspringen und so tun, als ob ich mir den Fuß verstaucht hätte. Genau, und ich bin raus aus dem Spiel. Bis zum Ende des Schuljahres.

      Gisela war noch dabei, sich zu überlegen, wie genau sie springen musste, damit es schlimm aussah, als Alexa ihre Hände hob und flüsterte: „Tinne-tann und tanne-tinn, wie ich eine Hexe bin, steigen in dir hoch die Säfte, erlangen deine Beine Kräfte.“ Kaum war das letzte Wort verklungen, hörte man von überall her leises Rascheln und hohes Fiepen. Erstaunt steckte Alexa ihren Kopf durchs Blätterdach und versuchte herauszufinden, was geschehen war.

      Cynthias spitzer Schrei durchbrach das allgemeine Gemurmel, bis dann auch Lara, Mona und Sabine hysterisch loskreischten.

      Tausende von weißen Mäusen sausten, aufgestachelt durch die gellenden Schreckensrufe der Mädchen, durchs Gebüsch, an der künstlichen Felswand vorbei und versuchten sich in irgendwelchen Nischen und Ritzen zu verstecken.

      Cynthia und die anderen Mädchen tanzten schreiend auf der Stelle, damit nur keine Maus ihre Beine hochkletterte. Auch Bastian hob die Beine, als ob er den Tanz der wilden Kosaken üben wollte. Jurek war wie Clemens die Wand hinaufgeklettert und beobachtete die Mäuse von oben, wie auch Gisela, die sich nicht von der Stelle rührte. Alles in allem war es spektakulär, was gerade geschah. Etwas Besseres hätte Gisela nicht passieren können. Sie brauchte nicht klettern, sie hatte sich nicht lächerlich gemacht, nur blieb eine Frage: Woher kamen diese armen Viecher? Sie waren rotäugig, hatten keine Schwänze und ihre Ohren waren zerfranst.

      Gisela suchte die Baumkronen ab. Sie konnte Alexa ausfindig machen, die, blass wie ein Laken, das Gewimmel unter sich verfolgte. Während die anderen so schnell wie möglich davonpreschten, kletterte sie die Felswand hinauf und ließ sich neben ihre Klassenkameraden auf der Kante nieder. Ihre Höhenangst hatte sie komplett vergessen. Ihr Blick fiel auf Clemens. „Du trägst keinen Sicherheitsgurt.“

      Clemens zuckte die Achseln. „Jurek auch nicht.“ Sein Blick war nach wie vor auf den Boden geheftet.

      Gisela sah Jurek an. „Hast du keine Angst?“

      Jurek lächelte. „Doch“, erwiderte er, und sie fühlte sich das erste Mal an diesem Tag unglaublich leicht.

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