Fisch Bernhard

Inferno Ostpreußen


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1934 in Loteswalde umgetauft haben. Die 160-Seelen-Gemeinde lag inmitten der weiten Kiefernforste der Johannisburger Heide, am Nordufer des unter Reisenden beliebten Niedersees. Der unweit davon geborene Försterssohn, Pädagoge und Schriftsteller Ernst Wiechert soll hier die Bühne errichtet haben, auf der er die „Jeromin-Kinder“, eine masurische Bauernfamilie, agieren ließ. Jedenfalls wurde das in den neunziger Jahren mehrfach auf Seminaren verbreitet, welche die Ostsee-Akademie von Lübeck-Travemünde in Masuren veranstaltet hat.

      Bevor wir jedoch über Wiechert sprechen, wollen wir uns dem Altmärker Heinrich Schliemann zuwenden, der im 19. Jahrhundert antike Siedlungen ausgegraben hat. Er war überzeugt, das seien die Reste der berühmten Stadt Troja aus dem Epos des Homer. Uns interessiert vor allem seine Methode: Nämlich, den Dichter beim Wort zu nehmen, dessen Hinweise auf die geographischen Verhältnisse zu studieren und sie mit der Realität zu vergleichen. So fand er jene alte Siedlung.

      Verfahren wir genauso bei der Suche nach jenem kleinen masurischen Dorf. Wir stellen darum die Frage: Ist das einst real existierende, heute von der Karte verschwundene Sowirog mit dem Lebensort der Jerominkinder identisch? Was sagt uns der Dichter darüber und wie sieht seine Wirklichkeit aus. Das Verfahren hat den Vorteil, dass wir uns im Verlaufe der Untersuchung zugleich an dem Wort des Autors, an seiner sprachlichen Meisterschaft freuen können.

      Schauen wir uns also in dem Text um. Sechsmal müssen wir das tun, sechs Umschauen biete ich dem Leser an.

       Umschau 1: Das Straßennetz

      Beginnen wir mit einer Szene schon fast am Ende des Buches. Da fahren vier Männer in brauner Uniform im Auto durch Ostpreußen. „Sie müssen langsam fahren, ehe sie die große Chaussee erreichen, weil die Straße voller Sand und Löcher ist. Und da sie langsam fahren, fällt ihnen ein alter, schiefer Wegweiser auf, der seine Arme in den Wald strecken will, aber der so schief ist, dass er gen Himmel zu weisen scheint. Darüber machen sie nun ihre Scherze, und erst als sie den Namen lesen, der mit unbeholfenen Buchstaben auf das graue Holz geschrieben ist, ist es mit dem Scherz zu Ende. ‚Aha!‘ sagt der Mann am Steuer und tritt scharf auf den Bremshebel. ‚Nach Sowirog‘ steht auf dem Wegweiser …“60

      Noch ein Bild: Eine Frau „stand noch ein paar Minuten unter den alten Kiefern am Waldrand und blickte auf die braunen Rohrdächer, auf den Balken des Brunnens und den See, der sich rötlich glänzend in die Wälder zog. – Ein verlorenes Dorf, mit einer staubigen Straße, die sich in Wald und Öde verlief.“61

      Oder auch: „Eine sandige Straße zieht zwischen ihren verlassenen Gartenzäunen entlang. Sie kommt aus den weiten Wäldern und verschwindet wieder zwischen ihnen.“62

      Auch das: „Der Totschläger wollte einen Umweg um Sowirog machen, weil er das Dorf hasste, mehr als andere Dörfer. Aber da es nur eine Straße gab, so hätte er den Umweg durch die Wälder machen müssen, und der Wagen liebte keine Wälder.“63

      Und der Pfarrer kommt zu den Bauern aus dem fernen Kirchdorf64 – Was ist eine masurische Ferne? Sind das 3 Kilometer? 5? 10? Setzen wir fünf an und lassen wir das Kirchdorf an der Hauptstraße liegen.

      Ergebnis 1: Augenscheinlich spielen die Straßen eine große Rolle bei Wiechert. Sie charakterisieren die waldeseinsame Lage des Dorfes. Sowirog liegt fern von der Chaussee, einsam inmitten von Wäldern, ein einziger Waldweg führt dorthin, der Wald lässt keine Umgehungsmöglichkeiten zu und zur Chaussee sind es angenommene fünf Kilometer. Dichterwort und Realität sind identisch.

       Umschau 2: Die Hauptstraße

      Auf einer Überblickskarte 1 : 300 000 aus dem I. Weltkrieg sind in dem Gebiet drei Chausseen verzeichnet: 1. Johannisburg – Rudzanny – Peitschendorf – Sensburg, 2. Ortelsburg – Schwentainen; die Verbindung von hier nach Rudzanny über Puppen verläuft als „gebesserter Weg“, das ist gewissermaßen ein Straße 3. Ordnung, sie hat als Bedeckung höchstens eine gewalzte Kiesschicht. Die dritte Chaussee zieht sich von Johannisburg, am Südostufer des Niedersees entlang, nach Turoschl. Will man von ihr aus nach Sowirog, dann muss man in Wiartel abbiegen, um auf das Nordwestufer des Sees zu kommen, und sich über Kruppa und Jaschkowen wenden.

      Versuchen wir uns der Straße zu nähern, von der Kreisstadt her, die im Roman oft vorkommt, mit ihrem Markt, dem Bahnhof und dem Gymnasium.

      Die Stadt steht im Anfang des Buches. Frauen aus Sowirog hatten ihre Produkte zum Markt gebracht, vor ihnen steht der Heimweg. Zwei Meilen müssen sie laufen.65 Sie sind „die Straße hinuntergegangen, die an der Kaserne vorbei ins offene Land führte“.66

      Und wer zum Landrat bestellt wurde, wie Jons Jeromins Vater, um des Kaisers Patengeschenk in Empfang zu nehmen, hatte vier Meilen Wegs zurückzulegen.67

      Und noch einmal taucht die Entfernungsangabe auf, sozusagen als Bestätigung. Der pensionierte Lehrer Stilling kauft während der Inflation in der Kreisstadt für sein letztes Geld ein Buch und geht nach Hause, „den langen Weg nach dem Dorfe“, „zwei Meilen lang“.68

      Eine Meile entspricht 7 532 Metern, 2 Meilen sind also rund 15 Kilometer. Legt man ein Lineal auf die Landkarte, an Ortelsburg und misst zwei Meilen Luftlinie in Richtung Sowirog ab, dann kommt man nur bis Schwentainen, von Sensburg wiederum nur bis nach Peitschendorf und von Johannisburg einen ganzen Kilometer über Sowirog hinaus. Nimmt man den Weg unter die Füße und also den Abzweig über Wiartel, dann erhalten wir tatsächlich zwei Meilen.

      Wiecherts Beschreibung der Chaussee enthält neben der Entfernung noch ein zweites Charakteristikum: An dem Heimweg der Bauersfrauen liegt eine Kaserne. Daraus ergibt sich die Frage: In welcher dieser Städte steht oder standen zu Wiecherts Zeit diese Truppenunterkünfte?

      Ortelsburg muss ausgeschlossen werden, auch wenn das Kennzeichen „Kaserne“ erfüllt ist. Bedeutsamer ist: Schwentainen liegt in einer drei Dörfer umfassenden Siedlungsinsel am Westrand der Johannisburger Heide, jenseits aller Waldeseinsamkeit und Seenromantik. Sensburg besitzt ebenfalls Kasernen, aber Peitschendorf ist selbst Kirchdorf und es liegt direkt an der Hauptstraße, auch alle anderen Beschreibungen passen nicht dazu (Waldeseinsamkeit, Lage am See). Bleibt Johannisburg, das aber besaß keine Kaserne.

      Ergebnis 2: Keine der möglichen Kreisstädte entspricht Wiecherts Beschreibung. Sie können daher nicht als reales Vorbild betrachtet werden.

      Da ist auch ein Bild bei Wiechert, das dieses Resultat bestätigt: Wenn die Dorfleute im Herbst auf der Anhöhe im Dorf standen, dann konnten sie weit über den See blicken. Dort „sahen sie ein breites goldenes Band. Das war der Weißbuchenwald, der seit undenklichen Zeiten ‚Das Paradies‘ genannt wurde. Die Straße nach den nächsten Dörfern lief zwischen seinen grünen, bemoosten Stämmen dahin“.69

      Das passt zu Sowirog und der Chaussee Johannisburg – Turoscheln. Aber: Steht oder stand dort einmal ein Weißbuchenwald? In Masuren existierten vor 1939 zwei größere geschlossene Buchenbestände: der eine südwestlich von Ortelsburg, der zweite im Gebiet von Rastenburg/Angerburg. Sie bildeten die europäische Ostgrenze der geschlossenen Buchenbestände. Sowirog liegt östlich dieser Linie. Des Dichters Bild widerspricht der Realität.

       Umschau 3: Optische und

       akustische Entfernungsangaben

      Hier geht es um die Bestimmung von Entfernungen zu akustischen oder optischen Quellen. Für die Wertung notwendige Aussagen finden sich in Büchern über militärisches Grundwissen.

      a) „Weit aus der Ferne kam der heulende Ruf eines Dampfers von dem großen See hinter den Wäldern.“70 – Dazu müssen wir festhalten: Dampferverkehr entwickelte sich vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Beldan- und dem Spirdingsee, noch nicht auf dem Niedersee. Mit dem „großen“ unter ihnen kann nur der Spirding gemeint sein.

      Zwar fand ich keine Angaben über die Reichweite einer Schiffssirene, das „Schießen einer Artilleriebatterie“ aber soll man auf 6 km hören, ein einzelnes Geschütz auf 3 km. Wenn wir das als Vergleich für die Schifffahrt zulassen, dann muss der Spirdingsee 3 bis 6 km entfernt sein, maximal 1 – 2 km weiter, sagen wir 8. Die Luftlinie Sowirog – Insel Spirdingswerder beträgt 6,5 km. Bei Nacht