und Mikhail Lermontov.
Schnell war klar: Der besondere Reiz dieser Reise lag, abgesehen von dem Reiseziel Karibik, in dem Nebeneinander der Nationalitäten: Deutsche, bedient von Russen. Also von Menschen aus der anderen Welt, aus der verschlossenen Welt hinter dem Eisernen Vorhang. Für uns so fern und unzugänglich wie der Mond. Bewohner der Sowjetunion, die wie Gefangene ihres Staates eingesperrt waren. Einige Hundert von diesen Menschen waren auf unserem Schiff leibhaftig zu sehen. Das war wie ein Wunder. Schweigsame Menschen, wenn nicht sogar verschwiegene, das war mein erster Eindruck von diesen Männern, Frauen und Mädchen. Sie sagten nichts, einfach überhaupt nichts. Und sie lachten nicht. Kein Kichern, kein Singen, kein Pfeifen, kein Seufzer oder munterer Zuruf, nichts. Auch keine unnötige Bewegung. Alle so proper in der Erscheinung, wie aus einem Werbefilm ausgeschnittene Figuren, schön, aber überlegen stumm. Selbst die hübschen Mädchen in ihren spitzenverzierten weißen Blusen hinter der Bar, sie machten mich verlegen mit dieser Abgehobenheit, in der sie meine Bestellung annahmen, und der kühlen Perfektion, mit der sie mich bedienten. Ich kam mir vor wie aus meiner Welt gefallen. Und irgendwo auf einem anderen Stern gelandet.
Wir Touristen waren auf diesem Schiff die Römer der Spätzeit, bunt aufgemacht und mit falschen Haarschöpfen, an die Theke gefesselt, dem Genuss verfallen. Die Russinnen würdigten den halbtrunkenen Gast keines Blickes. Sie taten ihre Pflicht in einer maschinenmäßigen Gleichförmigkeit. Eine sonderbare Pflicht, der sie gehorchten. Zur Förderung des Sozialismus verwöhnten sie die der Verwöhnung durch das Geld verfallenen Westmenschen, die Knechte des Kapitals. Manche Gäste waren so feinfühlig, dass ihnen die unverbindlich freundliche Unterkühltheit des Personals auffiel. In ihren Gesprächen kam als Erklärung immer wieder der Begriff Scheu vor. Was mir zu kurz gegriffen erschien. Lag doch auf der Hand, dass das russische Personal dieses Schiffs aus ideologisch intensiv geschulten und kritisch ausgewählten Mustermenschen des Sozialismus bestand. Personifizierte Visitenkarten, die in einer großen Show die Überlegenheit des Kommunismus vorzuführen hatten.
Wir Passagiere waren verwirrt von der ungewöhnlichen Paarung: Ein typisch privatkapitalistisches Unternehmen hat sich mit einem kommunistischen Staatsunternehmen zusammengetan. Und dabei kam ausgerechnet eine Amerikareise heraus. Irritierend, dabei doch so passend. Das Geld war der gemeinsame Nenner. Oder das Gold, von dem Christoph Kolumbus träumte, redete und schrieb.
Kolumbus hätte also Verständnis für die west-östliche Mesalliance gehabt, die wir gerade mit dieser Schiffsreise erlebten.
Vom Reiseleiter erfuhr ich, dass es im ersten Jahr dieser Karibik-Rundreisen größere Schwierigkeiten gegeben habe. 1967, auf der ersten Fahrt, wollten einige Inseln für ein russisches Schiff nicht ihre Häfen öffnen. Da mussten Ausweichhäfen gesucht werden. Die Ziererei hat sich aber bald gelegt. Man verstand: Das russische Schiff bringt deutsche Leute mit Geld, und das ist entscheidend. Zudem war es günstiger zu chartern als jedes vergleichbare Schiff von westlichen Reedereien. Nicht zuletzt weil die 350 Männer, Frauen und Mädchen aus der Sowjetunion nicht so hohe Löhne bezogen wie bei uns. Dabei verstand kaum einer von ihnen Deutsch. Aber sie waren auch noch nicht so raffiniert wie die Leute in Ländern mit langer Tourismustradition. Das war ein Erlebnis, über das die Passagiere gerne sprachen.
»Man hat hier keinen Augenblick das Gefühl, übers Ohr gehauen zu werden. Wechselgeld kann man unbesehen einstecken, weil es immer stimmt.«
»Hier wird man auch nicht schief angeguckt, wenn man an der Bar nur ein Selters bestellt, weil man noch vom Vorabend verkatert ist. Ist doch alles so verdammt billig, dass man viel zu viel in sich hineinschüttet. Kostet ja nicht den Führerschein.«
Was auch auffiel: Unser Schiff fuhr ohne jeden Flaggenschmuck, sogar ohne die Fahne der Schwarzmeerreederei, der es gehörte. Keine Nationalitätsflagge und keine Flagge der Heimatstadt des Schiffs, Odessa. Das heißt, wir fuhren in Piratenmanier durch fremde Hoheitsgebiete. Was ein besonderes Gefühl von Abenteuerlichkeit gab. Es war lediglich ein breiter roter Streifen rund um den Schornstein gemalt, der an beiden Seiten ein riesiges Hammer- und Sichel-Zeichen als gelbes Neontransparent trug. Und der Name des ukrainischen Dichters Taras Shevchenko in großen lateinischen und kyrillischen Buchstaben an den Schiffsflanken.
Deshalb hier ein paar Zeilen zu diesem Mann und seiner Bedeutung. Als Dichter und als Maler ist er für die Ukrainer so was wie Goethe für uns: der Nationalheros. Dabei hat er ein viel schwereres und auch viel kürzeres Leben durchlitten. Taras Grigorjewitsch Shevchenko, 1814 in der Ukraine in einem Dorf nahe Kiew geboren, schon mit elf Jahren Vollwaise, wurde nur 47 Jahre alt. Von dieser kurzen Lebenszeit hat er 24 Jahre in der Leibeigenschaft verbracht und mehr als zehn Jahre als Verbannter in der asiatischen Steppe. Er war einer der vielen Tausend Prügelknaben des zaristischen Russlands. Bei uns so gut wie unbekannt, aber in seiner Heimat unvergessen. In der Bordbibliothek fand ich bloß ein einziges übersetztes Buch von ihm. Kobzar, eine Sammlung von Liedern und Balladen, voller Freiheitsdurst und Begeisterung für seine ukrainische Heimat.
Doch zurück zu »seinem Schiff«: Heute war um viertel nach sieben Sonnenaufgang. Wir waren halt sehr weit im Westen. Schnell mal den frühen Vogel machen. Die Decks glänzten vom Schrubben. Auf dem obersten Deck machte einer der Offiziere seinen Frühsport. In den Meer- und Ölgeruch mischten sich erregende Düfte, die meine Schritte beschleunigten: Backbord roch es nach Kuchen, steuerbord nach Kaffee. Der Swimmingpool war schon vor der Frühstückszeit gut besucht. Auf dem Sportdeck legte sich gerade ein früher Gast in einen Liegestuhl, noch bevor die Sonne diesen Fleck erreichen konnte. Fünf weitere Liegestühle neben sich hatte er mit Handtüchern als sein Privatgelände markiert. Nach zehn Uhr sah ich, dass immer noch Liegestühle zu haben waren. Das wird der Sowjetunion mindestens so viel Sympathie eingebracht haben wie eine gelungene Mondlandung. Offenbar wusste man auch hinter dem Eisernen Vorhang: Auf Konsumbürger gerichtete Öffentlichkeitsarbeit muss konsumorientiert sein. Habe ich doch gesehen und gehört, wie Passagiere sich über die bescheidenen 60 Pfennige gefreut haben, die ein doppelstöckiger Wodka an der Bar kostete. Ganz klar, ein Klarer zum politischen Werbepreis. Mir war viel interessanter, dass die Bedienung noch mit dem Abakus in der Hand mit uns abrechnete, mit dieser wohl dreitausend Jahre alten Rechenhilfe, auf der zum Addieren und Subtrahieren Kugeln hin und her geschoben werden, und das mit einer Geschwindigkeit, die einen schwindelig werden lässt.
Als Christoph Kolumbus am 3. März 1492 zu seiner ersten Reise nach Westindien startete, hatte er nicht so ein 20 000-Tonnen-Schiff zur Verfügung. Was ihm die spanischen Majestäten Ferdinand und Isabella nach jahrelangem Ablehnen und Hinhalten endlich an die Hand gegeben hatten, das waren drei kleine Schiffe: eine Nao und zwei Karavellen. Die Nao Santa Maria wurde sein Flaggschiff, obwohl er dieses 100-Tonnen-Boot für zu groß hielt. Nicht geeignet für Erkundungszwecke, weil zu langsam und zu schwerfällig und mit zu viel Tiefgang für die Suche nach Landemöglichkeit in flachen Küstengewässern. Doch hatte sie den Vorteil, dass sie sehr geräumig war und fünfzig Mann Besatzung aufnehmen konnte. Wesentlich schneller waren die beiden Karavellen Pinta und Niña mit ihren jeweils nur 60 Tonnen und 31 beziehungsweise 27 Mann Besatzung. Eigentlich unverständlich, wie zögerlich und wie knickerig das spanische Königspaar Isabella I. und Ferdinand II. sich gezeigt hatte. Gehörte zum Ziel der geplanten Exkursion doch nicht bloß die Erkundung eines neuen Seewegs, sondern auch Landnahme und damit der direkte Zugriff Spaniens auf die sagenhaften Goldschätze Indiens, daneben auch auf den damals noch goldwerten tiefblauen Farbstoff aus der indischen Indigopflanze sowie neue exotische Gewürze. Aber der Italiener Kolumbus war Ausländer und allein damit für Spanier schon eine Zumutung, sowohl für das spanische Königspaar als auch für die spanischen Schiffsbesatzungen, wie Kolumbus immer wieder zu spüren bekam.
Die weißen Segel der kleinen Entdeckerflotte waren mit dem christlichen Kreuzzeichen bemalt, also ideologisch gerüstet, wie jetzt unser Schiff mit Hammer und Sichel als Neontransparent. Eine bunt gemischte Schar, bis auf Kolumbus und vier andere Männer sämtlich Spanier. Ohne Uniformen. Privatleute wie wir. Zu ihnen gehörten aber auch Ärzte und ein Maler, ein Polizeioberst und zwei königliche Beamte, die als Aufseher über die Ausgaben und die zu erwartenden gewaltigen Gewinnanteile der Krone zu wachen hatten, unterstützt von einem Protokollführer für die offizielle Inbesitznahme neuer Länder im Namen der Katholischen Majestäten. Dazu kam noch ein Dolmetscher für Arabisch. Denn Arabisch hielt man damals für die Mutter aller fremden Sprachen.