wollte Mira nicht aus dem Kopf gehen. Dieser wunderbare, fast verwunschene Ort voller Bücher, vom Boden bis zur Decke, fein säuberlich in alte, hölzerne Regale einsortiert. Eine Stille hatte stets über dem kleinen Buchladen gelegen, eine Stille, in der Mira, wenn sie die Augen geschlossen und tief in sich hineingelauscht hatte, hundert wispernde Stimmen gehört hatte, die ihre geheimnisvollen Geschichten erzählen wollten.
Wie oft hatte sie an diesem Ort stiller Heiligkeit nach einem neuen Abenteuer gestöbert, es mit nach Hause genommen in ihre damals so gar nicht abenteuerliche Welt. Unter der Bettdecke hatte sie die Geschichten gelesen und sie tags darauf nur schweren Herzens in den Buchladen zurückgebracht, nur um sich ein neues Buch auszusuchen, das sie noch nicht kannte.
Sie hasste den Staat von ganzem Herzen. Hasste ihn, weil er das Wunderbarste zerstört hatte, das in dieser abscheulichen Enge noch geblieben war. Die Bücher, in die sie sich so viele Jahre lang geflüchtet hatte.
Der Gedanke, dass sich vor Edmund Porters wunderbarem Buchladen eine ähnliche Szene abspielte wie die, deren Zeugen sie heute Nacht geworden waren, schnürte ihr die Kehle zu. Am liebsten hätte sie geweint, und sie sehnte sich wie nie zuvor nach Edmund Porters verstehenden Blick und seinen weisen Worten.
Sie legten den Weg zum Autofriedhof schweigend zurück. Mira war sicher, dass, wenn jemand das Wort an sie richtete, die Tränen doch noch die Oberhand gewinnen würden, und auch Urs und Biene schienen erschüttert von dem, was sie eben beobachtet hatten. Vielleicht nicht wegen des Verlustes, den Mira empfand, aber doch wegen der Angst vor dem, was es bedeutete. Die Netze zogen sich zu. Die tastende Hand staatlicher Kontrolle war ihnen mit einem Mal um so vieles näher gekommen.
Mira konnte es nicht erwarten, in die sichere Enge ihres unterirdischen Versteckes zu klettern. Die Welt hier draußen würde verschwinden, und Chas wäre dort. Sie sehnte sich nach seiner Anwesenheit, danach, ihm zu erzählen, was sie beobachtet hatten. Er sprach nie besonders viel, aber er war ein ausgezeichneter Zuhörer. Und er teilte ihre und Edmunds Liebe zu Büchern.
Nacheinander kletterten sie den Tunnel hinab und durch das Heckfenster. Hier drinnen war es dunkler, und Miras Augen mussten sich zuerst an die neue Umgebung gewöhnen. Einen schrecklichen Moment lang dachte sie, Chas wäre gar nicht da. Doch dann sah sie, dass er auf den Vordersitz des Wagens geklettert war, hinter das Lenkrad. Er starrte durch die noch intakte Frontscheibe hinaus in die unterirdische Schwärze. Ihre Rückkehr bedachte er kaum mit einem kurzen Blick.
Irritiert von seinem Desinteresse kroch Mira über die Rückbank auf den lehnenlosen Beifahrersitz neben ihm. „Alles okay?“
„Sicher.“ Chas sah sie nicht an. Er bewegte sich auch nicht. „Und bei euch?“
Mira warf einen hilfesuchenden Blick zu Urs und Biene, die hinter ihr in den Wagen geklettert waren. Sie hatte Chas von den hässlichen Dingen erzählen wollen, die in der Stadt geschehen waren, aber nun fehlten ihr die Worte. „In der Stadt verbrennen sie die Bücher“, murmelte sie nur ein wenig kläglich.
„Ja?“ Chas warf ihr nun doch einen flüchtigen Blick zu, dann drehte er sich zur anderen Seite und lehnte den Kopf gegen die Fahrertür. „Weißt du, es ist spät. Ihr wart ziemlich lange weg, und ich wollte eigentlich gerade schlafen.“
Fassungslos starrte Mira ihn an. „Okay.“ Ihre Kehle war eng geworden, und ihr „Gute Nacht“ kam nur gepresst heraus. Weil sie es nicht über sich brachte, sich erneut zu Urs und Biene umzuwenden, die stumm auf dem Rücksitz saßen, betrachtete sie Chas’ Rücken und tat es ihm irgendwann gleich, indem sie sich an den Fahrzeugrahmen zwischen den beiden rissigen Fenstern auf ihrer Seite lehnte und vorgab zu schlafen. In Wirklichkeit gab sie endlich den Tränen nach.
Chas’ Atemzüge und das Flüstern von Biene auf dem Rücksitz mussten sie in den Schlaf gewiegt haben. Mira erwachte von einem anderen Geräusch, einer anderen Stimme. Sie blinzelte ein wenig, fühlte sich aber zu erschlagen, zu ausgelaugt, um den Kopf zu heben, obwohl ihre Schultern von der seitlichen Haltung schmerzten.
„Das tut mir aufrichtig leid.“ Gesprächsfetzen drangen durch die Schwere zu Mira durch. Urs’ Stimme klang weich. Sie klang eigentlich fast immer weich, überlegte Mira schlaftrunken. Wie ein schwerer Samtvorhang. Ganz sicher nicht wie die Stimme eines Rebellen.
Rebellen. Biene. Flammen und Bücher. Bücher und Flammen. Bücher in Flammen. Die Geschehnisse des vergangenen Tages schlugen wie eine eisige Welle über Mira zusammen und zogen die samtige Wärme, die der Schlaf und der Klang von Urs’ Stimme hinterlassen hatten, schlagartig weg.
Mira riss die Augen auf und starrte regungslos in die bleierne Dunkelheit um sie herum. Sie wollte sich eben vorsichtig aufrichten, um die anderen nicht zu wecken, da ergriff erneut Urs das Wort. „Einer von uns hätte hierbleiben sollen. Bei den Rebellen …“ Er sog scharf die Luft ein. „Wir lassen nie einen Einzelnen zurück. Es widerspricht unseren Überzeugungen.“
Niemand antwortete, und Mira begann bereits, sich zu fragen, ob Urs am Ende mit sich selbst sprach.
„Sie war bei euch“, erklang jedoch endlich Chas’ Stimme, so viel näher an Mira als die von Urs, dass sie unwillkürlich zusammenfuhr. „In Außenstädterkleidung. Ich wusste nicht … wenn ihr nun etwas zugestoßen wäre.“
Ein glühender Stich fuhr Mira durch die Eingeweide, als ihr klar wurde, dass Chas von ihr sprach.
„Du hast dir Sorgen gemacht“, stellte Urs nüchtern fest. „Als Biene heute alleine in der Stadt war, bin ich vor Angst ebenfalls fast gestorben.“
„Ich hab keine Angst.“
„Aber du willst sie nicht verlieren.“
Es war eine Feststellung, keine Frage, doch Chas antwortete dennoch darauf, und so viel Offenheit sah ihm derart unähnlich, dass Mira unwillkürlich den Atem anhielt. „An dem Abend, an dem sie zum ersten Mal zu den Fischerkindern kam, wollte ich Klein-Ararat eigentlich verlassen. Und seitdem noch zwei weitere Male. Aber mir ist es nie gelungen, Mira zurückzulassen.“
Urs erwiderte nichts, aber Mira war sich beinahe sicher, dass er lächelte. Sie selbst lehnte regungslos an der Autokarosserie und spürte, wie ihr das Herz in der Brust hämmerte und eine so tiefe Zärtlichkeit für Chas in ihr aufstieg, dass alles in ihr danach verlangte, das Schlaftheater aufzugeben und sich ihm zuzuwenden.
„Ich weiß nicht“, sagte Chas, und Mira wurde sich bewusst, dass sie von ihren eigenen Gedanken und Gefühlen so abgelenkt gewesen war, dass sie überhört haben musste, was Urs gefragt hatte. „Es gibt ja auch noch Filip.“
„Aber er und Mira … sie sind nicht zusammen, oder?“
„Um ehrlich zu sein, weiß sie das wahrscheinlich selbst nicht einmal so genau.“ Chas lachte leise, aber es war deutlich zu hören, dass er diese verworrene Geschichte zwischen Mira und Filip nicht wirklich lustig fand. „Jedenfalls wird sie in mir niemals mehr als einen Freund sehen, ehe sie und Filip das nicht geklärt haben. Wahrscheinlich wäre es auch viel verlangt, solange Filip in Gefahr schwebt.“
„Und das auch noch ihretwegen“, murmelte Urs. „Weil er sie beschützen wollte.“
„Eigentlich meinetwegen.“
„Deinetwegen?“
Chas seufzte. „Er glaubt … er hat etwas gegen mich in der Hand. Um Mira zu schützen, hat er mich gedeckt. Ich befürchte, das ist der Grund, aus dem sie ihn verhaftet haben.“
Wieder folgte ein langes Schweigen. Mehr konnte Chas unmöglich preisgeben, wenn er Urs nicht verraten wollte, dass er in Wirklichkeit Carl Auttenberg war. Und dass Filip und sein Wachmannkollege ihn höchstwahrscheinlich erkannt hatten.
„Ist es wahr?“, fragte Chas unvermittelt. „Dass sie die Bücher verbrennen?“
„Ja.“
Auch dazu sagte Chas nichts. Er gab überhaupt keine hörbare Reaktion von sich. Doch Mira spürte seine Hand auf ihrem Arm. Er tastete sich vorwärts bis zu ihrem Hals und strich vorsichtig über ihr Haar.
Schnell presste