Melissa C. Feurer

Die Fischerkinder. Im Auge des Sturms


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Gegenlicht konnte sie nicht mehr als die Umrisse des Wachmanns erkennen, der dort stand und sie musterte. „Drei Gefangene“, stellte er fest, und Urs nickte, obwohl es nicht gerade nach einer Frage geklungen hatte.

      „Lasst eure Bändchen sehen!“

      Er beugte sich über Urs’ Handgelenk, als wolle er kontrollieren, ob sein Bändchen auch echt war, und warf auch einen kurzen Blick auf die der beiden Mädchen. Mira konnte nur davon ausgehen, dass es ihm lediglich darum ging, zu wissen, ob sie überhaupt ein ID-Band hatten, denn ohne Scanner gaben ihm die weißen Plastikstreifen keinerlei Informationen. Doch er schien zufrieden, nickte ihnen knapp zu und trat wieder aus der Zelle. Die Tür zog er hinter sich ins Schloss.

      „Glaubt ihr, wir können …“, setzte Mira an, aber Urs fiel ihr ins Wort: „Warte!“ Er lauschte angestrengt, und Mira tat es ihm gleich. Die Schritte des Wachmannes entfernten sich, etwas klickte, und schließlich knallte eine Tür zu.

      „Ist er weg?“ Mira konzentrierte sich mit aller Kraft auf die Geräusche vor der Zellentür, konnte aber nichts mehr ausmachen. „Er kann doch nicht einfach seinen Posten verlassen!“ Sie spürte Aufregung in sich aufwallen. Aufregung und einen Funken Hoffnung. „Habt ihr eine Nadel? Oder … eine Gabel oder so! Es ist ein ziemlich altes und großes Schloss! Vielleicht können wir …“

      „Nicht nötig.“ Urs hielt etwas in die Höhe, das Mira im Halbdunkel nur an seinem metallischen Klirren sicher erkennen konnte. Einen Schlüsselbund.

      „Sag bloß, den hattest du schon die ganze Zeit!“

      „Nein.“ In Urs’ Stimme lag unverkennbar ein Grinsen. „Erst seit der Bändchenkontrolle gerade eben.“ Er erhob sich, und binnen Sekunden hatte er die Zellentür aufgeschlossen. Erneut fiel Licht zu ihnen herein, und es dauerte einige Augenblicke, bis Mira genug sehen konnte, um sicher zu sein, dass der Wachmann tatsächlich verschwunden war.

      Sie konnte es nicht fassen. In Leonardsburg waren die Wachen äußerst gewissenhafte Leute. Pflichtversessen und exakt – wie Filip. In einer Stadt wie Cem hätte sie eine mindestens genauso gründliche, wenn nicht sogar noch korrektere Arbeitsweise erwartet.

      Urs ging zum verlassenen Schreibtisch. Das Gehen schien ihm schwerzufallen; er hinkte ein wenig, zumindest bei den ersten Schritten. Doch nachdem er den Schlüssel sorgfältig auf der Tischplatte abgelegt hatte, straffte er die Schultern und wandte sich zu Biene und Mira um. „Na los, gehen wir!“

      Mira hatte Mühe, ihn nicht fassungslos anzustarren. Ihn schien es kaum zu überraschen, wie glatt ihre Flucht verlief. Wie konnte er geahnt haben, dass der Wachmann, dem er den Schlüsselbund gestohlen hatte, just eine halbe Minute später seinen Posten verlassen würde – und sei es nur, um auf die Toilette zu gehen? Aber Urs kommentierte dieses unverschämte Glück nicht mit einem Wort! Oder nahm er es schlichtweg als Gebetserhörung?

      Doch es blieb keine Zeit für Fragen. Der Wachmann oder die von ihm abgelöste Wachfrau konnten jeden Augenblick zurückkommen, und dann wären sie wirklich in Schwierigkeiten. Nein, nun hieß es die Beine in die Hand nehmen und so schnell wie möglich zu Chas gelangen. Mira graute davor, wie sie ihn vorfinden würden.

      Chas’ Zustand war schlecht. Er schlief, als sie kamen; keinen ruhigen Schlaf, sondern einen seiner Fieberträume, sodass Mira und Biene sich ihm kaum nähern konnten. Die Wasserflasche lag leer und offen neben ihm, aber Mira hatte den Verdacht, dass ihr Inhalt den Erdboden tränkte und nicht Chas’ fiebrigen Körper mit lebensnotwendiger Flüssigkeit versorgte.

      Urs kniete sich neben ihm in den Schmutz. Beinahe grob musste er Chas’ Arme zu Boden drücken, um ihn davon abzuhalten, ihn im Fieberwahn von sich zu stoßen. Sogar in der Dämmerung konnte Mira Urs’ Gesicht versteinern sehen, als er Chas’ Wunde untersuchte. „Er braucht Wasser“, sagte er nur tonlos. Sofort sammelte Biene die leere Flasche vom Boden auf.

      Mira riss den Blick von Chas los, der sich in Urs’ Griff wand. Ihre Lungen fühlten sich plötzlich zu eng an, um genügend Luft aufzunehmen. „Ich komme mit“, krächzte sie erstickt, aber Biene schüttelte den Kopf.

      „Hilf Urs. Hast du nicht gesagt, du hast Medikamente?“

      Sich jäh an das nutzlose Sammelsurium an Säften und Tabletten, Verbänden und Injektionen erinnernd, ließ Mira sich neben Urs auf die Knie sinken. Ihre Augen brannten. „Ich wusste nicht, was er braucht.“ Sie zog die übriggebliebenen Fläschchen und Tablettenblister aus ihren Taschen und breitete sie in heillosem Durcheinander vor Urs aus. In der Dunkelheit verschwammen sie vor ihren Augen. Sie hatte auf ganzer Linie versagt. Viel zu lange war sie weg gewesen, hatte Chas viel zu lange alleine gelassen. Und wofür? Für ein paar Hände voll wahllos zusammengesammelter Medikamente, von denen sie nicht einmal wusste, wofür sie gut waren.

      „Lass mal sehen.“ Urs’ ruhige Stimme drängte die Panik in ihrem Inneren für einen Moment zurück, hielt sie davon ab, zu einem nutzlosen, verzweifelt schluchzenden Wrack zu werden.

      Er wühlte sich durch die Sammlung, las hier und da im letzten Sonnenlicht ein Etikett, legte manches zu seiner Linken, anderes zu seiner Rechten ab, schüttelte den Kopf und nickte schließlich. „Hier. Das hier wirkt entzündungshemmend.“

      Mira richtete sich auf. „Bist du sicher?“

      Urs nickte. „Ich habe es bekommen.“ Er wies vage in Richtung seines Beines. „Gleich nachdem ich angeschossen wurde. Die Wunde ist viel besser verheilt als die von Chas.“

      Natürlich. Auch Urs war beim Überfall auf Klein-Ararat verletzt worden. Mira erinnerte sich, wie ihr bei ihrer Flucht aus dem Gefängnis sein leichtes Hinken aufgefallen war. „Woher hattest du die Medikamente? Und woher wusstest du überhaupt …“

      „Natürlich“, unterbrach Urs sie, „hat sich die Entzündung in Chas’ Körper bereits ausgebreitet. Ich hoffe nur … wir können nur beten, dass das Medikament dem gewachsen ist.“

      Mit einem Knacken öffnete er das kleine Fläschchen, schob eine Hand unter Chas’ Nacken und zwang ihn gegen seinen Willen in eine aufrechtere Position. Ein Teil der bernsteinfarbenen Flüssigkeit rann über Chas’ Kinn und versickerte in seinem schmutzigen Hemd, aber Mira konnte auch sehen, wie Chas schluckte. Einmal, zweimal, dreimal einen Schluck des rettenden Medikaments in sich aufnahm.

      Als er fertig war, griff Urs nach einer Rolle frischem Verband und einer Salbe. „Ich wünschte, wir könnten die Wunde anständig desinfizieren. Aber das hier wird fürs Erste ausreichen müssen. Es wird ihm nicht besonders gefallen“, fügte er hinzu, ehe er sich daranmachte, den geöffneten Verband gänzlich von Chas’ Verletzung zu schälen.

      Mira vermied es geflissentlich, dabei zuzusehen. Allein die Erinnerung an den Anblick der verbrannten Haut ließ den Geschmack von Galle in ihrer Kehle hochsteigen. Stattdessen starrte sie in Chas’ Gesicht. Die Unterlippe war blutig gebissen, die Augen bewegten sich hinter den geschlossenen Lidern. Unwillkürlich musste Mira an ihren goldenen Karamellton denken, und plötzlich sehnte sie sich nach diesem Anblick wie in einem langen Winter nach dem warmen Gefühl der Sonne auf ihrer Haut.

      Sie zog ihren Ärmel über den Handballen und wischte Chas den Schweiß von der Stirn. Das schwarze, herausgewachsene Haar klebte an seiner Haut, und sie strich es sorgsam zurück. Erst nach einigen Sekunden merkte sie, dass Urs in seiner Tätigkeit innegehalten hatte.

      „Entschuldige!“ Sie rückte hastig zurück. „Ich wollte dir nicht im Weg sein.“

      „Nein.“ Urs sah sie an und senkte den Blick dann wieder auf Chas. „Bleib. Ich glaube, es beruhigt ihn.“

      Mira schluckte, rutschte aber wieder an Chas’ Seite und streckte − nun, da sie sich der Berührung plötzlich viel bewusster war als vorhin − die Hand nach ihm aus. Sie streichelte sein Haar, und ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, als sie sich vorstellte, wie wenig Chas das gefallen würde, wenn er bei Bewusstsein wäre. Es war albern: Selbst die Ruppigkeit, mit der er jede Fürsorge ablehnte, vermisste sie.

      Urs trug Salbe auf, und manchmal verzog Chas vor Schmerz das Gesicht. Doch die meiste Zeit blieb er ruhig. Erst