Martin Scheil

Der Flügelschlag des Zitronenfalters


Скачать книгу

lassen. Für eine Lebensversicherung“.

      Die Augen des Arztes verrieten eine Mischung aus Skepsis und Verunsicherung. Und bei Pfeffer: Jagdinstinkt. Fährte aufgenommen. Wie in den guten alten Zeiten. Was war hier los? Was stimmte hier nicht? Hatte er etwas Falsches gesagt? Oh Gott, womöglich etwas Schwules? Grübel grübel. Nein, definitiv nichts Schwules. Es musste also etwas anderes sein. Hatte es mit den Büchern zu tun? Kam ihm der Arzt nicht irgendwie bekannt vor? Ein Sozi vielleicht? Aus Bremen? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Wirkung vor Deckung. Wie in der guten alten Zeit.

      „Haben Sie mal in Bremen praktiziert, Herr Doktor?“

      „In Bremen?“ Bartholdy wurde jetzt tatsächlich nervös „Nein, nie in Bremen. Wieso wollen Sie das denn wissen?“

      „Ich weiß auch nicht. Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet. Waren Sie sonst schon mal irgendwann in Bremen?“ Pfeffer war jetzt ganz im Suchmodus des Redaktionspfadfinders.

      „Nun, gut möglich, ja, mit Sicherheit war ich schon einmal dort. Vielleicht bei einem Kongress. Aber was soll denn diese Fragerei, Herr Pfeffer. Eigentlich ist das doch meine Aufgabe, oder? Ich meine, deswegen sind Sie doch hier. Also. Wollen wir loslegen?“ Er versuchte verkniffen zu lachen und stand auf, wohl um die Untersuchung nun beginnen zu lassen. Pfeffer jedoch ließ nicht locker, und jetzt war er sich sicher. Irgendwo hatte er diesen Arzt schon einmal gesehen. Aber wo? Und wann? Ärzte, Ärzte, Ärzte. Verflixt noch eins, es wollte ihm nicht einfallen. Er hatte nie mit Ärzten zu tun gehabt. Also abgesehen von den Krankschreibungen wegen schweren Vollrauschs. Aber wenn Bartholdy nie in Bremen praktiziert hatte, dann konnte er ihn schwerlich daher kennen. Bartholdy, Bartholdy, komischer Name. Den hätte er sich bestimmt gemerkt. Nein, es musste irgend etwas anderes sein. Also nochmal die Lupe raus und ganz genau hingesehen. Statur, Gesicht, Augen, Kinn, Frisur, da war doch was, da war doch was da war ... DAS WAR ES! Die Trauerfeier. Rebschläger. Eins auf die Nase. Rückwärts, rückwärts. Komm schon Pfeffer, weiter zurückspulen. Besenkammer, Tresen. Zack! Der Name. Der Name, den er so angestrengt gesucht hatte. Der erste Gedanke: Hab ich Dich! Der zweite: Jetzt aber auch voll auskosten! Erstmal Kreuzverhör. Ach, das wird ein Fest! Er stand auf und ging langsamen Schrittes durch den Raum, während er sprach.

      „Sie waren also nie in Bremen.“

      „Sagen Sie, was soll denn das?“, entgegnete Bartholdy nun merklich angespannt.

      „Und Ihr Name ist Dr. Dr. Clemens Bratholdy.“ Pfeffer stand nun wieder vor dem Bücherregal.

      „Ja natürlich, wie sollte er denn sonst sein? Wissen Sie was, Ihre Spielchen können Sie allein spielen. Ich glaube, Sie sind hier bei mir falsch. Am besten sollte ich Sie wohl rüber in die Psychiatrie schicken. Guten Tag!“ Bartholdy wollte gerade zur Tür gehen, da riss Pfeffer das Caesar-Buch aus dem Schrank, knallte es effektvoll auf den Schreibtisch und sagte ganz ruhig: „Tun Sie mir einen gefallen, Bartholdy. Lesen Sie vor, was da steht!“

      Bartholdy nahm das Buch, schlug es auf und sagte „Ich weiß zwar nicht, was das bringen soll, aber wenn Sie dann endlich gehen, von mir aus. Gallia est omnis divisa in partes tres ...“

      „Auf Deutsch, verdammt!“ Pfeffer bemerkte, dass er laut geworden war. Das musste nun auch nicht sein.

      Bartholdy hielt das Buch noch einige Momente aufgeklappt in der Hand, schlug es dann zu, warf es achtlos auf den Tisch und ließ sich in seinen Sessel fallen. Er nahm die Brille ab und legte sie auf den Tisch.

      „Hast Du mich gleich erkannt, oder wie habe ich mich verraten?“, fragte er resigniert.

      „Du bist es, oder? Du bist Gert! Gert Briefke! Mann, das fasse ich ja gar nicht. Du bist es wirklich, oder?“ Pfeffer hatte ihn ertappt, aber noch nicht vollständig begriffen, was gerade geschehen war.

      „Ach Richard.“ Bartholdy alias Gerd Briefke ließ den Kopf in den Nacken fallen und sah zur Decke. Jetzt war Pfeffer vollkommen sicher. Niemand sonst hatte ihn je Richard genannt.

      „Was machst Du denn hier, Gert? Und wieso bist Du jetzt Clemens Bartholdy mit Doppeldoktor und einem schicken Büro und überhaupt? Ich denke, Du bist Postbote! Das war doch immer der Knaller, wegen Briefke und den Briefen und so!“

      Nun, da er die Brille abgenommen hatte, war er dem alten Bekannten aus Bremer Zeiten auch wieder deutlich ähnlicher, selbst wenn er seit Ihrem ersten Treffen beim Joggen noch ein bisschen hagerer geworden war. Wie hatte er nur seinen Namen vergessen können, so gut wie sich die beiden damals auf Anhieb verstanden hatten. Pfeffer konnte es noch immer kaum glauben, sein Gegenüber aber war nur noch ein Häufchen Elend.

      „Gert, jetzt im Ernst! Was soll das hier alles?“ Pfeffer bemühte sich, sehr streng zu klingen und seine Wiedersehensfreude zugunsten eines väterlich ermahnenden Tons zu verdrängen.

      „Ich kann Dir das jetzt nicht erklären, Richard. Nicht hier. Tu mir einen Gefallen und verrate mich nicht, ja? Ich versichere Dir, dass es für all das eine gute Erklärung gibt. Nur bitte verrate mich nicht!“

      „Auf die Erklärung bin ich aber mal gespannt!“, erwiderte Pfeffer prompt.

      „Was hältst Du davon, wenn wir uns heute Abend treffen? Bei mir. Privat. Dann erzähle ich Dir alles. Von Anfang bis Ende. Versprochen.“

      Pfeffer brauchte nicht lange zu überlegen. „Sag mir einfach wann und wo.“

      Als Richard genannt Rick Pfeffer nur wenige Stunden später vor der Haustür des vermeintlichen Doktor Bartholdy stand und klingelte, hatte dieser bereits seine Fassung wiedergewonnen und öffnete in gewohnter Pose, einstudiert und herrschaftlich. Der weiße Kittel war einem Cord-Anzug gewichen und mit einladender Geste bedeutete er Rick Pfeffer hereinzukommen.

      „Schön, dass Du da bist Richard, komm’ rein. Ich habe uns schon eine Flasche Bordeaux dekantiert. 1982er. Ganz vorzüglich. Hast Du gut hergefunden?“

      Aber Rick Pfeffer war so gar nicht nach Smalltalk zumute. Den ganzen Nachmittag lang hatte er sich überlegt, wie er dieses Gespräch führen sollte und war doch zu keinem vernünftigen Schluss gekommen. Das Problem war zweischneidig. Sein alter Kumpel Briefke, der Postbote, gab sich offenbar als Arzt aus und das war – gelinde gesagt – eine Ungeheuerlichkeit. Dazu ein falscher Name. Das machte es nicht besser. Andererseits aber, ja, wie nur hatte er das geschafft? Wie? Gert Briefke hatte es offenbar hinbekommen, alle zu täuschen. Er, der Briefträger. Sie, die Geneppten. Behörden, Oberärzte, Krankenschwestern, Patienten. Wie zum Kuckuck konnte er das nur fertiggebracht haben? Aber dann saß da auch wieder das Engelchen auf der anderen Schulter: Er arbeitet mit Menschen! Er kann ihnen schaden. Ihnen wehtun. Er tut etwas Illegales. Und letztlich immer wieder ein Argument, das nicht zu schlagen war: ER IST KEIN ARZT! Er hatte nicht studiert, kein Praktikum gemacht, gar nichts. Wie nur hatte er soweit kommen können, ohne jemals einen Hörsaal von Innen gesehen zu haben? Letztlich was es also ganz einfach. Sein Gegenüber musste über ein Höchstmaß an Einfallsreichtum, aber auch krimineller Energie verfügen. Das war die eine Seite. Die andere war, dass er selbst, Rick Pfeffer, nun einmal von Haus aus Journalist war. Ein Berufsstand, der nur der Wahrheit verpflichtet ist. Also meistens zumindest. Oder immerhin sollte es so sein. Oder ... ach verdammt, immer diese verschwimmenden Grenzen. Und außerdem und nebenbei und vielleicht nicht so ganz unwichtig in diesem Zusammenhang: Bei rechtem Licht betrachtet, war Richard genannt Rick Pfeffer ja auch kein richtig echter Journalist. Also im engeren Sinne, wenn man es ganz genau nimmt. Noch weniger Trennschärfe zwischen Richtig und Falsch. Oh je, wo sollte das noch enden? Und überhaupt und andererseits: wenn Dr. Bartholdy alias Gert Briefke Menschen geschadet hätte, dann wäre er ihm wohl kaum heute Vormittag begegnet. Dann hätte man ihn doch längst angezeigt, und er wäre aufgeflogen. Gericht, Urteil, Knast. Oder noch Schlimmeres.

      Es waren Rick Pfeffer also viele Fragen im Kopf herumgegangen und das noch bis vor wenigen Sekunden. Aber in dem Moment, als er den Klingelknopf an der Haustür Briefke/Bartholdy drückte und es schellen hörte, schloss er seinen inneren Monolog und Zerwurf mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner ab, den diese Sache für ihn bringen mochte: man konnte von diesem Gert Briefke auf jeden Fall einiges lernen.

      Und wieder vorgespult.