Matthias Albrecht

Das Tal der Untoten


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fühlte einen Becher an meinen Lippen und schluckte mechanisch. Es schmeckte bittersüß wie die Medizin, die wir alltäglich bekamen.

      „Ich habe doch schon am Abend …“

      „Das hier ist etwas anderes“, unterbricht sie mich. „Eine andere – eh – Medizin.“

      „Eine andere?“

      „Jetzt höre mir jetzt genau zu, 203. Dein Leben hängt davon ab!“

      Mein Leben? Nicht das Paradies? Was ist denn Leben? Was kann ein Untoter mit Leben anfangen? Mein irritierter Blick schien Bände zu sprechen, denn sie sagte: „Du hast vor deiner Zeit als Hauer ein Leben gehabt, 203. Wie jeder andere Untote auch. Kannst du dich daran erinnern?“

      Ich schüttelte den Kopf. Diese Behauptung kam mir lächerlich vor.

      „Nein“, sagt sie und atmete desillusioniert auf. „Soweit bist du noch nicht. Aber bald. Bald wirst du wissen, was ich meine.“

      „Gut“, hörte ich mich sagen. „Ich bin müde. Kann ich jetzt schlafen?“

      „Gleich“, sagte sie. „Erst muss ich dich noch instruieren.“

      Ich hatte dieses Wort noch nie gehört, verband jedoch etwas Unwiderrufliches damit. Etwas Schlimmes.

      „Willst du mir den – den Kopf absägen?“

      Sie hielt sich die Hand vor den Mund. Beinahe hätte sie laut aufgelacht. Mir war nicht klar, was so lustig an einer Hinrichtung sein sollte.

      „Nein du Dummerchen. Ich muss dir aber ein paar Verhaltensregeln einhämmern, damit du dich nicht verrätst.“

      „Was meinst du?“

      „Beantworte mir zunächst folgende Frage: Bist du schon einmal lebendig begraben worden?“

      „Be-gra-ben?“

      „Mit Trommeln, Fackeln, Gesängen, Beschwörungsformeln und so. Kannst du dich daran erinnern?“

      „Die Trommeln. Ja. Und die Gesänge …“

      „Und die bemalten Gesichter und Masken. Und der Kumys, den du zuvor getrunken hast.“

      „Der Kuhmist?“ Jetzt musste ich schmunzeln. „Die alte Melly hat ihn …“

       Weniger als Bier – Nur ’n paar Prozent – Nich der Rede wert – Weit über neunzig – Baba Jaga – Kuhmist –Besser als gedacht – Lebenselixier …

      Ich setzte mich so schnell auf, dass mir schwindlig wurde.

      „Ich – ich war in einem … man hat mich in einen Sarg …“

      „Jeden von uns“, sagte sie und hielt sich wieder den Finger vor den Mund. „Aber sprich leiser!“ Sie sah zu den anderen Patienten hinüber, die sich nicht bewegten. „Du kannst dich also erinnern?“

      Ich nickte. Mein Mund war plötzlich so trocken. Und der Kopf brummte, als beherbergte er ein Hornissennest.

      „Daran – ja. Aber nicht an das, was davor war.“

      „Auch nicht an deinen richtigen Namen?“

      „M203 …“

      „Nein. Deinen Namen vor deiner, eh, Verwandlung.“

      „Welche Verwandlung? Und was sind Hornissen?“

      „Hornissen? Wie kommst du denn auf die?“

      „Ich – ich weiß nicht …“

      Sie schüttelte den Kopf und flüsterte. „Vergiss das jetzt! Und begreife endlich: man hat dich und uns zu Zombies gemacht“. Ich spürte ihren warmen Atem. „Verstehst du? Zu Zombies. Zu willenlosen Werkzeugen.“

      „Zombies …“, wiederholte ich und schaute sie fragend an. „Was sind Zombies?“

      „Jedenfalls nicht Leichen fressende, halb verweste, teils skelettierte, mit eitrigen Binden umwickelte Kreaturen, wie man sie aus Büchern oder Filmen kennt. Es ist ein bestimmter Voodoo-Zauber. Wenn ein Mensch mit Gift vermischten Kumys trinkt, lebendig begraben und nach kurzer Zeit wieder ausgebuddelt wird, glaubt er, in einer Zwischenwelt gefangen zu sein. Nicht mehr lebendig, aber auch noch nicht wirklich tot. Ein Erdgebundener, dem eigene Entscheidungen verwehrt bleiben. Sein Erinnerungsvermögen an früher ist gleich null. Er hat keinen Willen mehr und tut alles, was man von ihm verlangt.“

      Ich gab mir Mühe, ihr zu folgen. Es gelang mir nur teilweise, doch immerhin in einem Umfang, der mich ahnen ließ, was mit mir passiert war.

      „Natürlich“, fuhr sie fort, „funktioniert das nur, wenn man ihm regelmäßig Atropinsulfat in Verbindung mit anderen Wirkstoffen verabreicht. Sonst wacht er wieder auf. So wie du jetzt.“

      „Die – Medizin, die ich jeden Abend …“

      „Ja. Aber ich habe sie ausgetauscht.“

      „Aus-ge-tauscht? Seit – wann?“

      „Seit gestern. Du hast seitdem bestimmt schon einige Dinge bemerkt, die ungewöhnlich waren.“

      „Ich bin in der Nacht aufgewacht. Das ist noch nie passiert. Und ich – ich fühlte mich nicht gut.“

      „Das war nur der Anfang. Ich bin dabei, dich aufzutauen. So nennen wir die Rückverwandlung eines Zombies in einen Menschen. Ich sorge dafür, dass du bald wieder zu dem wirst, der du einmal warst.“

      „Du – du meinst – doch nicht etwa – zu einem Lebenden?“

      „Genau das meine ich.“

      „Aber – aber – ich will das nicht. Ich will nicht auftauen. Das – das Paradies! Der ewige Schlaf. Werde ich dann immer noch nach – nach dort kommen?“

      „Oh Gott, du Armer!“ Sie tupfte mir den kalten Schweiß von der Stirn. „Du wirst etwas viel Besseres gewinnen als ewigen Schlaf. Na ja, zumindest in deinem wirklichen Leben.“

      Ich schwieg und starrte zur Decke. Begann allmählich zu begreifen. Und auch wieder nicht.

      „Kriegen die – die anderen auch die neue Medizin?“

      „Nein. Nur ganz wenige. Kaum eine Handvoll. Du bist voraussichtlich der letzte von ihnen.“

      „Wieso ich? Wieso gerade ich …“

      „Du scheinst mir noch der Hellste zu sein unter all deinen Kumpels. Ich habe dich lange beobachtet.“

      „Der Hellste?“ Ich schaute auf meinen Unterarm und fand, dass dessen Haut sich farblich nicht von der meiner Kameraden unterschied. Die Schwestergehilfin lachte leise.

      „Wir sind – mit dir – insgesamt sechs. Allein können wir es weder wagen noch schaffen, zu fliehen. Deshalb brauchen wir dich. Aber du musst dich zusammenreißen. Musst dich weiterhin so geben und verhalten, als wärest du ein waschechter Zombie. Sonst fliegt deine Tarnung auf und wir mit ihr. Was das bedeutet, muss ich ja wohl nicht erläutern.“ Sie führte ihre angewinkelte Hand zum Hals und machte eine schnelle Bewegung, während ich es in Worte fasste:

      „Kopf ab?“

      Sie nickte.

      „Oh …“

      „Du sagst es. Die ewige Verdammnis. Kein Paradies. Kein Schlaf. Kein Leben. Nur bleierne, schmerzende, erstickende Müdigkeit bis zum Tag des Jüngsten Gerichts.“

      Ich glaubte ihr in diesem Moment. Ich hätte alles geglaubt.

      „Wann – wann gehen wir von hier weg?“

      „Nicht heute und nicht morgen. Du wirst es erfahren, wenn es soweit ist. Durch mich oder einen meiner Kameraden.“

      „Wie erkenne ich ihn, wenn – wenn du es nicht selbst bist?“

      „Er oder sie wird dich mitten in der Nacht wecken und zum Sammelpunkt bringen. Ich kann dir nicht garantierten, dass ich