Tommy Krappweis

Ghostsitter


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Übung Schmübung

      Ich hab aber keinen Bock meheheeeer!«, schallte die Stimme des Geistermädchens quer durch den Zirkuswagen. Gerade noch war Mimi mit geschlossenen Augen durch den Raum geschwebt und hatte versucht zu spüren, ob sie sich vor dem Tisch oder auf dem Tisch befand. Tatsächlich war sie aber durch den Tisch hindurchgeschwebt und hatte nichts davon bemerkt. Nun flatterte sie hin und her, und ihre Augen waren nicht mehr geschlossen, sondern genervt gegen die Decke gerollt.

      Tom seufzte. »Das versteh ich wirklich gut, Mimi. Aber wenn du deinen Character in World of WerWizards irgendwann mal auch selbst steuern willst, musst du diese Übungen zur Teilmaterialisierung eben regelmäßig machen.«

      »Jaja, Übungen, Schmübungen …«, grummelte Mimi wenig schlagfertig, aber dem Gespenst war anzusehen, dass es genau wusste, wie recht Tom damit hatte.

      Als Geist der Sorte Apparatio konnte sie sich zwar frei bewegen und ungehindert durch Wände, Böden oder Personen schweben – aber genauso glitt sie eben auch durch alle anderen Dinge hindurch. Etwas festzuhalten, aufzuheben oder auch nur ein paar Zentimeter hin und her zu schieben, war für sie nicht möglich. Das galt für Maus und Tastatur in einem Online Game, aber eben nicht nur dafür – die Sache wurde auch immer problematischer, je näher sich Mimi und Tom kamen. Schon in einer ganz normalen Freundschaft kam es schließlich vor, dass man jemanden mal umarmte, tröstend die Hand auf die Schulter legte oder ein Krabbeltierchen vom Ohr schnippte. Das alles war schlicht nicht möglich für einen Menschenjungen und ein Geistermädchen.

      »Boah, ich komm mir voll blöd vor …«, meckerte Mimi, als sie zum vielleicht zwanzigsten Mal durch den Tisch geschwebt war. »Wie lang soll ich das denn jetzt noch machen?«

      »So lange, bis du einen Widerstand spürst«, antwortete Tom. »Und nein, ich weiß nicht, wie lange es dauert, aber es lohnt sich! Da bin ich mir ganz sicher, Mimi! Es ist doch super, dass ich diese Zeilen in Vlarads Aufzeichnungen überhaupt gefunden hab.«

      »Bin mir da grad nicht so sicher«, murmelte das Geistermädchen.

      »Na logo!«, widersprach Tom energisch. »Allein dass ich endlich mal ein bisschen was über Untote lesen durfte, ist ja der Hit. Ich hatte echt schon das Gefühl, ihr wollt mich absichtlich doof halten.«

      »Du weißt genau, dass das nicht stimmt«, schnappte Mimi sofort zurück. »Und außerdem mach ich das jetzt schon voll ewig lang! Lahang! Lahahahangweiliiiiiig!«

      Tom schaute auf die Zeitanzeige seines neuen Smartphones.

      »Ich weiß ja nicht, wie man als Gespenst die Zeit wahrnimmt, aber für uns Normalsterbliche sind viereinhalb Minuten keine Ewigkeit …«

      »Pah! Google mal den Einstein, der wird dir erklären, dass Zeit relativ ist. Es kommt immer drauf an, was man gerade tun muss.«

      »… oder tun will«, ließ sich da die Stimme von Vlarad dem Vampir vernehmen. Tom und Mimi drehten sich zu ihm herum. »Wenn man etwas muss, scheint die Zeit entschieden langsamer zu vergehen als in Situationen, in denen man etwas gerne tut …«

      Der Graf ließ sich für seine Verhältnisse überraschend schlapp auf einem der Küchenstühle nieder. Sonst achtete er eigentlich sehr auf Haltung und einen gräflichen Gesamteindruck, doch jetzt gerade schien ihm das völlig egal zu sein. Er lümmelte sich regelrecht auf den Stuhl, streckte dann die Beine aus und kratzte sich gedankenverloren an der Stirn.

      »Du siehst auf jeden Fall gerade so aus, als käme dir die Zeit besonders lang vor, Vlarad«, sagte Tom und setzte sich besorgt zu ihm an den Tisch. »Was ist denn los?«

      Auch Mimi kam sofort angeflattert und musterte den erschöpften Vampir.

      Der schüttelte traurig den Kopf: »Ich gebe zu, ich bin zerschmettert. Seit Wochen und Monaten forsche ich nun schon an Hop-Teps Lazarus-Serum. Immer wenn ich denke, dass ein Durchbruch kurz bevorsteht, löst sich die Hoffnung auf in ein deprimierend belangloses Wölkchen aus gelblich schimmerndem Nichts. Wenn das so weitergeht, rechne ich mit dem Schlimmsten.«

      »Oh je …«, murmelte Mimi. Tom wusste natürlich genau, was sie fühlte. Ohne das kostbare Lazarus-Serum würde die Mumie ihr untotes Leben nicht erhalten können und unweigerlich zu Staub zerfallen.

      »Wie lang, glaubst du, kann Hop-Tep noch durchhalten mit dem restlichen Serum?«, fragte Tom, obwohl er gar nicht so sicher war, ob er die Antwort wirklich hören wollte.

      Vlarad blickte ernst in die Runde. »Meinen Berechnungen zufolge kommt unser ägyptischer Prinz damit in etwa bis Halloween.«

      »Was?«, rief Mimi erschrocken. »Das ist ja …«

      »… in weniger als drei Monaten, richtig«, beendete Vlarad ihren Satz. »Danach ist der Verfall seiner sterblichen Anteile nicht mehr aufzuhalten. Er mag bei guter Pflege seiner Bandagen und regelmäßiger Neubalsamierung noch Wochen oder gar Monate überstehen. Da sein Fall absolut einzigartig ist, kann ich nicht sagen, wie lange es dauert, bis er vollständig zu Staub zerfallen ist.«

      »Oh Mann …« Gestresst quetschte Tom seine Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger und presste die Augenlider zusammen, als hätte er plötzlich rasende Kopfschmerzen. »Wir haben doch gerade erst Wombie davor gerettet, an seinem Getodstag vom Wind verteilt zu werden, und nun droht uns das Gleiche mit unserem ägyptischen Prinzen.«

      Als er begann, hell flackernde Punkte zu sehen, öffnete er die Augen und rieb sich stattdessen die Schläfen. »Was ist das eigentlich für eine Sache mit euch Untoten und diesem andauernden Zu-Staub-zerfallen-Ding?«

      »Mach dir da keine Illusionen, Junge«, winkte der Vampir ab. »Auch ihr Menschen zerfallt irgendwann zu Staub. Bei euch sieht es nur deutlich langweiliger aus.«

      »Dann bin ich auch irgendwann mal langweilig zerstaubt, oder?«, warf Mimi ein. »Schließlich war ich auch mal menschlich.« Dann kicherte sie. »Hihi, also zumindest nehm ich das jetzt mal an. Genau weiß ich es natürlich nicht. Ich erinnere mich ja blöderweise nur so weit zurück, wie ich ein Gespenst bin.«

      »Du weißt, wie ich darüber denke, junges Fräulein«, antwortete Vlarad. »Du kannst es bedauern oder du kannst froh darüber sein. Ich rate zu Letzterem, denn man wird nicht ohne Grund ein schicksalsgebundener Geist, wie du einer bist. Meist ist das Schicksal ein grausames solches. Viele andere Wesen, die dergleichen erleben, wären froh, wenn sie vergessen könnten, was ihnen widerfuhr.«

      Tom bemerkte den Seufzer, mit dem der Vampir den letzten Satz begleitet hatte. Stimmt, dachte er, ich weiß auch gar nix über Vlarads Geschichte, bevor er zum Vampir wurde.

      Er beschloss, hier mal bei Gelegenheit vorsichtig nachzubohren. Aber nun hatten sie ja andere Probleme.

      »Gibt es denn irgendetwas, das wir für Hop-Tep tun können?«, fragte Tom, aber der Vampir schüttelte den Kopf.

      »Um ehrlich zu sein, ich wüsste nicht, was«, sprach er leise und blickte dann ausdruckslos ins Leere.

      Tom hatte den Vampir noch nie so niedergeschlagen erlebt, und auch Mimi tauschte einen besorgten Blick mit ihm aus. Doch da erhob sich der Graf plötzlich und straffte sich, als würde er Körper und Geist zur Ordnung rufen.

      »Nein! Das ist nicht akzeptabel!«, rief er und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Ich bin mir sicher, dass irgendetwas Essenzielles meiner Aufmerksamkeit entgeht, und will abermals doppelt und dreifach verdammt sein, wenn ich da nicht bald draufkomme, Hölle und Brut!«

      Er wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal zu dem Geistermädchen um: »Es freut mich zu sehen, dass du nach über zweihundert Jahren endlich mit den Übungen zur Teilmaterialisierung begonnen hast. Sobald sich ein Effekt bei dir einstellt, meldet euch bitte bei mir, damit ich den abschließenden magischen Spruch anwenden kann.«

      Erstaunt blickte Tom zu Mimi, doch das Gespenstermädchen mied seinen Blick …