Zulehner Christoph

Make the Fake.


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des Fakes geboren. Sie ist ganz einfach eine Notwendigkeit.

      Die logische Folge: Die Wissens- und Informationsexplosion führt letztendlich auch zu einer Expertenexplosion. Es gibt täglich mehr. Es entsteht so etwas wie ein Wissensteppich. Was wiederum dazu führt, dass wir auch Experten dafür brauchen, wie man sich als Experte sichtbar macht. Die Themen Positionierung und Personal Branding explodieren gefühlt mindestens in ähnlichem Ausmaß wie das verfügbare Wissen. Alle Menschen, die etwas davon verstehen – die Experten –, empfehlen deshalb, sich mit seinem Dienstleistungsangebot auf eine Nische zu spezialisieren. Spezialisierung als Bewältigungsstrategie für Komplexität. Heute soll man sich auf ein Wissensfeld konzentrieren, je kleiner, desto besser. Brücken hinter sich abreißen, sich voll und ganz auf ein Thema, einen Bereich, einen Aspekt konzentrieren. Das ist der Königsweg. Ich denke: Damit liegen die Experten goldrichtig. Auch wenn ich mich selbst für einen etwas anderen Weg entschieden habe. Aber dazu gleich mehr.

      Sich auf eine Nische zu spezialisieren, ist deshalb der richtige Weg, weil ihn trotz allem unter dem Strich doch eher wenige gehen. Denn: Die wenigsten Menschen bringen es übers Herz, das eigene Können und das eigene Wissen und die eigenen Potenziale auf die Nische zu reduzieren. Sich von Dingen und Wissen zu verabschieden, die sie im Lauf ihres Berufslebens angehäuft haben – das zwar oft nicht mehr aktuell und relevant ist, an dem sie aber wehleidig hängen.

      Ich kenne eine Projektmanagerin, die schon seit zwanzig Jahren sehr erfolgreich in ihrem Beruf arbeitet, schon viel gemacht und ganz verschiedene Themen bearbeitet hat. Immer wenn sie ihre Website überarbeitet und sich im Zuge dessen mit ihrer eigenen Positionierung beschäftigt, ist sie wild entschlossen, sich nur auf das Thema Change Management zu spezialisieren. Wenn sie mir dann jedoch nach getaner Arbeit stolz ihre überarbeitete Website präsentiert, sehe ich darauf nicht nur ihr Spezialgebiet Change Management, sondern immer auch noch mindestens vier andere. Wenn ich sie dann damit ein bisschen necke, sagt sie regelmäßig: „Ja, aber ich kann halt auch Kundenorientierung, und Prozesse auch, das war das Thema meiner Doktorarbeit, das kann ich doch nicht einfach so unter den Tisch fallen lassen! Und überhaupt: Wenn ein neuer Kunde nach einer Projektmanagerin sucht, die Change Management kann, und dann feststellt, dass ich auch noch gut in Kundenorientierung und Prozessen bin, kann das doch nur von Vorteil sein, oder?“

      In solchen Gesprächen stelle ich immer wieder fest: Sich von dem zu trennen, was man sich einmal intensiv angeeignet hat, fällt den Menschen schwer. Unerträglich schwer. Damals, als wir uns nur zwischen Jagen und Sammeln entscheiden mussten, war das Leben des Berufstätigen doch um einiges einfacher.

       FREUNDE NEHMEN DEN HINTEREINGANG

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      Die Kunst besteht darin, sich zwar mit einem speziellen Nischenthema zu positionieren, aber diesen Begriff gleichzeitig so zu wählen, dass er noch Spielräume offen lässt. Und diesen Spielraum dann auch noch zu schärfen. Ein Beispiel: Nehmen wir einmal an, Sie überlegen, ob Sie sich als Kommunikationsexperte oder als NLP-Experte positionieren. Auf den ersten Blick scheint die Antwort auf diese Frage eindeutig: Kommunikationsexperte ist viel zu breit und unspezifisch, deshalb kommt nur der NLP-Experte in Frage. Richtig? Falsch! Ich würde mich niemals als NLP-Experte positionieren, denn NLP ist lediglich ein Werkzeug, ein Tool unter vielen. Hier gilt es zu überlegen, wie man das übergeordnete Thema Kommunikation noch weiter spezifizieren kann.

      Die Frage stellt sich heute in jeder Branche: Bin ich Anbieter von Schlüssel und Schloss, oder bin ich Experte für Zutrittssysteme? Bin ich ein Schottertransportdienst oder Experte für Schüttgutlogistik? Ich weiß: Leicht ist das nicht. Vor allem die Suche nach dem richtigen Überbegriff!

      Mit meiner eigenen Positionierung bin ich deshalb einen anderen Weg gegangen. Dabei habe auch ich mich von einem Coach unterstützen lassen – eine sehr wertvolle Hilfe. Als ich mit dem Coaching begann, stellte ich mich ihm als Experte für Expertenorganisationen vor. Damals war ich mir sicher, damit ins Schwarze getroffen zu haben. Ich beriet Krankenhäuser, und was war denn ein Krankenhaus anderes als ein System, eine Organisation voller Experten? Und ich war derjenige, der sich mit diesem System bestens auskannte und es dabei beriet, noch besser zu werden. Experte für Expertenorganisationen also. Großartig!

      Mein Coach zeigte sich davon allerdings nur leidlich beeindruckt. „Was ist denn eine Expertenorganisation?“, fragte er mich als Erstes, „Noch nie gehört. Ich kann mir genau gar nichts darunter vorstellen.“ Mein Gesicht hätte ich in diesem Moment gerne selbst sehen wollen.

      Nun gut. War ich eben nicht mehr Experte für Expertenorganisationen. Wir haben dann gemeinsam viel hin und her überlegt und letztendlich kam ich zu dem Schluss, mich auf meiner Website als „Stratege und Speaker“ vorzustellen. Ich weiß: Das ist sehr weit gefasst. Und Sie könnten jetzt sicherlich sagen: Ah, der Zulehner. Da hat er selber Schwierigkeiten gehabt, auf den Punkt zu bringen, was er für ein Experte ist. Mag sein. Ich habe auf dem Weg zu dieser Positionierung jedoch festgestellt: Ich bin ja kein Berufsanfänger, der sich erst noch einen Ruf aufbauen muss. Vor allem habe ich gelernt, sehr genau zu unterscheiden, was ich kommuniziere und was ich tatsächlich tue.

      Es ist nämlich so, und zwar nicht nur bei mir: Den größten Teil meines Einkommens verdiene ich nach wie vor als Berater im Gesundheitswesen. Und das wird vielleicht auch weiterhin so bleiben. Auf meiner Website ist das allerdings nicht ersichtlich. Dort steht, dass ich Stratege und Speaker bin. Und jetzt kommen wir auf das Wesen des Fakes zurück: Ich habe keine Ahnung, ob ich das tatsächlich bin. Aber das ist die Richtung, in die ich mich entwickeln will. Das ist der Fake. Ich gebe vor, etwas zu sein, obwohl ich es noch nicht wirklich bin – aber indem ich es öffentlich mache, verspreche ich mir selbst und dem Markt, dass ich es sein werde. Viele wollen das nicht „Fake“ nennen, weil sie sagen: Das klingt unaufrichtig. Stattdessen nennen sie es „Positionierung“. Ist das aufrichtiger?

      Übrigens: Nicht lange, nachdem ich meine Website veröffentlicht hatte, wurde ich darüber tatsächlich als Speaker gebucht – beim Europäischen Forum Alpbach Pflege. Und das ist ja nun nicht nichts. Das Forum Alpbach ist seit 1945 eine international bedeutsame Plattform, auf der Referenten und Teilnehmer aus allen Teilen der Welt, aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zusammenkommen, um aktuelle Fragen der Zeit zu diskutieren und interdisziplinäre Lösungsansätze zu finden. Dort habe ich zum Thema „Ko-Kompetenz. Die Zukunft der Zusammenarbeit“ gesprochen. Ich wage mal zu behaupten, dass diese Buchung ausgeblieben wäre, wenn ich mich auf meiner Website als „Berater im Gesundheitswesen“ vermarktet hätte.

      Ich denke, dass jeder Experte diese Entscheidung treffen muss: Was kommuniziert er nach außen, und was tut er tatsächlich? Er sollte Brücken abbrennen, wenn es um die Kommunikation geht, aber nicht wenn es um den Broterwerb geht. Gefährden Sie Ihre Existenzgrundlage nicht radikal!

      Stellen Sie sich einfach ein Haus vor – mit einem repräsentativen Vordereingang und einem unspektakulären Hintereingang. Zum Vordereingang gehen alle diejenigen hinein, die Sie offiziell und zu einem bestimmten Termin eingeladen haben. Den Hintereingang benutzen Ihre Freunde – sie wissen vielleicht noch nicht mal, wie repräsentativ Ihr Vordereingang aussieht, aber das ist ihnen auch egal. Sie wissen genau, was sie von Ihnen erwarten dürfen und wie Sie in Jogginghosen aussehen. Genauso sollten Sie auch Ihre Positionierung betrachten: Sie haben einen repräsentativen „Vordereingang“ mit einem glänzend polierten Firmenschild – dort gehen die Menschen hinein, die Sie noch nicht kennen. Ihre Kunden werden genau das von Ihnen haben oder wissen wollen, was Sie auf Ihrem Schild anbieten. Und das ist, bis zu einem gewissen Grad, Fake. Den Hintereingang benutzen Ihre „Freunde“, sprich: Menschen, die schon seit Jahren mit Ihnen zusammenarbeiten, die genau wissen, was sie von Ihnen wollen und denen es egal ist, ob das nun auch zu Ihrem offiziellen Portfolio gehört oder nicht.

      Und wenn Sie jetzt sagen: Ja Moment mal, auf dem Türschild meines Hausarzts steht „Facharzt für Allgemeinmedizin“, und da weiß ich, was ich bekomme – das ist doch wohl kein Fake! Dann denken Sie an den Wissenstransfer in der modernen Medizin, den ich oben beschrieben habe, und dessen Notwendigkeit, und überlegen Sie noch einmal: Auch dieses Schild enthält einen guten Teil Fake.

       DAS UNSICHTBARE