Franz Kabelka

Gesundes Gift


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      „Und die Antwort?“

      Lotte Prinz zuckte frustriert mit der Schulter und zog ein Kuvert aus ihrer Handtasche.

      „Da, lesen Sie selbst.“

      Frieda überflog das Schreiben mit dem geschlungenen MAA als Briefkopf, dem Logo der Maharishi Ayurvedaklinik Adang. „Ihrem Wunsch kann leider nicht entsprochen werden“, hieß es da, und in der Begründung war zweimal von der „Selbstverantwortung des Patienten“ die Rede. Außerdem habe Frau Prinz durch ihre Unterschrift zur Kenntnis genommen, „dass ein positiver Effekt der Kur nur dann gewährleistet ist, wenn alle ärztlich verschriebenen Anwendungen die gesamte Kurdauer über konsumiert werden“. Dem habe sich Frau Prinz durch ihren Abbruch der Kur nun ja leider entzogen.

      „Könnte ich davon eine Kopie haben?“, fragte Frieda.

      „Wozu?“

      „Vielleicht kann ich das in meinem Artikel verwenden.“

      Lotte Prinz zögerte einen Augenblick.

      „Nein“, sagte sie dann mit Bestimmtheit. „Es ist jetzt zwei Jahre her, was soll das noch groß bringen. Ich möchte mir keine Schwierigkeiten einhandeln. Und außerdem: Sie sehen ja selbst, wie ich beieinander bin, obwohl ich seither wieder die alten Hämmer schlucke. Oder gerade deshalb? Vielleicht war es ja doch meine Schuld. Wenn ich den Ausleitungsprozess nur durchgestanden hätte …“

      Frieda seufzte. Dieses Muster kannte sie zur Genüge, Lotte Prinz war nicht die erste Geschädigte aus Weinzierls famoser Klinik, die sie interviewte. Am Ende gaben sich die ausschließlich weiblichen Opfer auch noch selbst die Schuld an ihrer Misere. Bisher war keine bereit gewesen, gegen die Klinik rechtliche Schritte zu setzen oder ihr, der Journalistin, hieb- und stichfestes Material zu überlassen. Von wegen Selbstverantwortung des Patienten! Aber so, wie sie selbst Dr. Gottfried Weinzierl erlebt hatte, konnte sich Frieda auch bestens vorstellen, dass er gegenüber schlichten Gemütern eine Autoritätsperson ersten Ranges darstellte. So einem pinkelte frau nicht ans Bein. Lieber igelte sie sich ein und nahm alle Verantwortung auf sich.

      „Danke für das Hintergrundgespräch“, sagte Frieda zu Lotte Prinz, die bereits aufgestanden war und nach ihrer Jacke griff.

      „Ich verspreche Ihnen, dass ich alles, was Sie mir erzählt haben, nur anonymisiert verwenden werde. Und sollten Sie Ihre Meinung noch ändern, was die Unterlagen betrifft, können Sie mich jederzeit anrufen.“

      Das leidende, geschwollene Gesicht von Frau Prinz verriet ihr, dass sie sich diesbezüglich keine Hoffnung zu machen brauchte.

      „Die Welt ist alles, was der Fall ist, hat uns der gute alte Wittgenstein vor jetzt bald hundert Jahren verkündet. Er hat nicht vorhersehen können, dass dank der unablässig anbrandenden Esoterikwellen unser Begriff von der Welt mittlerweile recht ordentlich erweitert worden ist, nicht wahr?“

      Es sollte zynisch klingen, aber irgendwie schienen alle Argumente an Emma abzuprallen. Die alte Schulfreundin hatte Frieda schon im Vorjahr das Versprechen abgenommen, bei ihrem nächsten Besuch in der alten Heimat unbedingt einmal in ihrer „Hütte“ vorbeizuschauen. Diese erwies sich als stattlicher Vierkanthof außerhalb der Stadt, den Emma und ihr Mann, ein bekannter Architekt, günstig gekauft und modernisiert hatten. Die ehemalige Stube, ausgestattet mit einer Oberlichte aus Milchglas, diente Emma als Grafikbüro, nicht weniger als drei große Apple-Computer prangten auf den weiß lackierten Schreibtischen. Bei der Führung durchs Haus waren Frieda seltsame Apparaturen an den Wasserhähnen aufgefallen. Emma hatte ihr erklärt, dass es sich um Wasserbelebungsgeräte nach Johann Grander handelte, was prompt zu einer heißen Diskussion über Glauben und Wissen geführt hatte. Mittlerweile waren sie bei der Komplementärmedizin angelangt. Dem Thema, das Frieda derzeit am meisten beschäftigte.

      Sie hockten einander im Schneidersitz gegenüber, wie in alten Zeiten. Nur dass die ehemals übliche Unterlage, irgendein billiges Baumwolltuch, durch eine reich bestickte Brokatdecke mit einem breiten goldenen Saum ersetzt worden war, zweifellos ein Mitbringsel Emmas von einer ihrer zahlreichen Asienreisen. Der frisch zubereitete Jasmintee duftete, das Teelicht flackerte in einer mit Elefantenmustern durchbrochenen steinernen Kugel und erzeugte bizarre Lichtmuster im abgedunkelten Raum.

      Aber Frieda hatte keinen Sinn für das exotische Ambiente. Sie diskutierten nun schon eine halbe Stunde, und Frieda spürte, dass ihr die alte Freundin immer fremder wurde, je länger das Gespräch dauerte.

      „Das Zeug wäre doch früher in Medizinerkreisen nicht einmal satisfaktionsfähig gewesen, Emma! Heute findest du die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nullwertigen Salze eines Dr. Schüßler in jeder Apotheke, und schon der zwölfjährige Karli fragt, wenn die Mama ihn losschickt, um Ferrum phosphoricum zu holen, ob er die Globuli in D6 oder D12 bringen soll.“

      „Und was regst du dich darüber auf?“ Emma gluckerte fröhlich. „Du musst dir das Zeug ja nicht einwerfen. Niemand zwingt dich dazu.“

      Frieda sah einer Riesenmotte nach, die von ihrer Nachtschwärmerei im Zimmer zurückgeblieben war und an der Innenseite des Fensters in einem letzten hoffnungslosen Taumel rauf- und runterflatterte. War er nicht richtig, der Einwand der Freundin? Weshalb regte sie sich so auf? Sie versuchte, es Emma gleichzutun und ebenso kerzengerade zu sitzen, aber ihre Hüften waren an die Position nicht mehr gewöhnt. Der Tee schmeckte ihr nicht, und Kaffee gab es keinen. „Sorry, das ist schon seit Jahren ein koffeinfreier Haushalt“, lautete Emmas Entschuldigung. Immerhin half das Nippen an dem lauwarmen Gesöff beim Konzentrieren.

      Wie lange trieb das Thema sie nun schon um? War es wirklich nur die Serie, für die sie seit Wochen recherchierte, oder steckte etwas Grundsätzlicheres dahinter? Eine Irritation, eine grundsätzliche Verstörung darüber, dass nichts mehr seine Ordnung hatte und jede Mess- und Wägbarkeit den Bach runterging? Wünschte sie sich, naiv wie ein kleines Mäderl, gar den allwissenden Herrn Doktor zurück, das Abbild des lieben Gottes auf Erden, der einem mit seiner bloßen sonoren Stimme helfen konnte?

      Aber was war denn so anders bei den sogenannten Heilern jedweder Provenienz? Traten die etwa weniger priesterhaft auf, wenn sie ihre Puls- und Pupillendiagnose machten oder schlicht die Aura ihrer Klienten orteten, um danach ihre Wässerchen und Kügelchen zu verordnen? Nein, gewiss fehlte es ihnen nicht an Ausstrahlung. Eher strahlten gerade sie jene Gewissheit, jene Überzeugungskraft aus, über die der gute alte Herr Doktor in seinem weißen Kittel schon längst nicht mehr verfügte in seiner krankenkassengestützten Ordination. Die gesellschaftliche Elite und erst recht das breite Bürgertum waren weggebrochen, hatten sich verduftet. Aus dem Mief der Massenordination hinüber in die ausbalancierte, von weichem Salzlicht durchflutete Feng-Shui-Atmosphäre der Heilkünstler. Wer sich nicht beizeiten umstellte, wer nicht selbst Globuli und Magnetbänder verschrieb, galt als Technokrat, bornierter Schulmediziner und willenloser Vertreter der Pharmaindustrie – mit einem Wort als alt. Also passten die Ärzte sich an, sortierten die Apotheker ihre Regale neu. Beide Berufsgruppen empfahlen jetzt ihrer Klientel, wonach diese sich sehnte: nach dem alles heilenden, heilmachenden Lebenselixier. Egal, was man während des Studiums gelernt hatte, egal, was durch zig Doppelblindstudien längst belegt war: Hauptsache, der Astralleib dehnt sich dank des verordneten Rosenquarzes ins Unermessliche; Hauptsache, das Horoskop bettet dich ein in kosmologische Sphären. Und – für den Fall, dass alle Stricke reißen sollten – der ewige, immer richtige Trost: Hilft’s nichts, so schadet’s nichts. Ein Trostpflaster, mit dem man jedem Mund, Augen und Ohren verkleben kann.

      War es dieser hirnverbrannte, hirnverbrennende, als Zeitgeist getarnte Ungeist, der Frieda so nervte? Der, gepaart mit unverblümter Abzockerei, zu beweisen schien, dass Scharlatanerie und Quacksalbertum nie auszurotten sein würden – jedenfalls nicht durch eine an Redlichkeit und Überprüfbarkeit orientierte Wissenschaft? War es jene unheilige Allianz zwischen Anhängern der Alternativmedizin und irgendwelcher Alternativreligionen bis hin zur Verschmelzung beider? War es diese esoterisch-mystische Pseudoargumentation, die abzustellen sich einst Äskulap bemüht hatte und an deren Verbreitung seine postmodernen Schüler nun kräftig mitwirkten, anstatt dafür zu sorgen, dass derlei Sümpfe endlich trockengelegt