Arnold Mettnitzer

Der ermutigte Mensch


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des Kindes ermöglicht durch taktile Simulation zum einen das vitale Wachstum des Kindes, zum anderen seine seelische Entwicklung. Vermutlich noch vor der Entdeckung der Stimme als Resonanzorgan entwickelt und erfährt das Neugeborene eine neue Art von Weltbeziehung über den Hautkontakt mit der Mutter. Über die taktilen Empfindungen wird die Haut so zum ersten und wichtigsten Medium der passiven Welterfahrung und der aktiven Welterkundung. Die leibliche Berührung ist somit die erste Sprache, in der das Kind angesprochen und durch die sein Selbstempfinden geweckt wird.14

      Über die Haut als neues Resonanzorgan hinaus entwickeln sich zwei weitere Arten und Weisen, in denen das Kind nach seiner Geburt in die Welt und mit ihr in Resonanz tritt: zum einen durch das Atmen und zum anderen durch das Aufnehmen und Ausscheiden von Nahrung. Durch Nahrungsaufnahme und Ausscheidung verleibt sich das Neugeborene diese seine neue Welt sozusagen ein, lässt sie durch seinen eigenen Leib „hindurchprozessieren“, nimmt sie in einem stetigen Austauschprozess auf und gibt sie wieder ab.

      Ebenso atmet ein Neugeborenes zuvor schon diese seine neue Welt ein und aus und gibt dadurch seiner Umgebung das verlässlichste Zeichen seiner Lebendigkeit. „So, wie unsere Seele […] uns zusammenhält, umspannen Atem und Luft die ganze Welt“, schreibt der griechische Philosoph Anaximenes. Atmen versorgt nicht nur den Körper mit Sauerstoff, er verbindet unsere Innen- mit der Außenwelt. „Spirare“ – „atmen“ und „spiritus“ – „Geist“ sind im Lateinischen enge Verwandte. Ärzte sprechen von Inspiration und meinen damit die Einatmung; umgangssprachlich steht dieser Begriff aber für einen Geistesblitz, eine unerwartete Erkenntnis. Im Judentum nennt man den Atem „ruah“ – „Gotteswind“, im Koran steht der Begriff „nafs“ für die Seele des Menschen, für sein „Selbst“ und kommt dort 276 Mal vor. Dieses Wort ist wiederum verwandt mit dem hebräischen Wort „nephesh“/„nafas“ – „der Atem“. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass sich das deutsche Wort „Atem“ vom Hindi-Wort „atma“ ableitet, was so viel bedeutet wie „unzerstörbares Selbst“ und damit auch wie im Buddhismus, in der Bibel und im Koran für die Seele und das Selbst des Menschen steht.15 So wird noch besser verstehbar, warum der Atem in vielen Kulturen als Kennzeichen des Lebens und darüber hinaus als Essenz der Seele überhaupt gedeutet wird. In der jüdisch-christlichen Tradition ist das Einhauchen des Atems das Kernstück des göttlichen Schöpfungs- und Belebungsaktes: Der Verlust des Atems ist gleichbedeutend mit dem Tod des Menschen. Darüber hinaus ist der Atem zeitlebens ein verlässlicher Indikator dafür, wie es uns geht.

      In der Gestalttherapie sind die Therapeuten deshalb angehalten, die Atemmuster ihrer Klienten zu beobachten. Entwickelt wurde diese Methode der Psychotherapie vom deutsch-jüdischen Ehepaar Fritz und Laura Perls nach deren Flucht vor den Nationalsozialisten. In ihrem 1951 mit Paul Goodman veröffentlichten Buch „Gestalttherapie“ schreiben sie: „Achten Sie während ihrer täglichen Aktivitäten, vor allem in besonderen Momenten darauf […], wie sie dazu tendieren, den Atem anzuhalten, anstatt tiefer zu atmen, wie die Situation es biologisch fordert. Was halten Sie zurück, indem Sie den Atem anhalten? Einen Aufschrei? Kreischen? Wegrennen? Zuschlagen? Erbrechen?“16

      Die Vorstellung, dass der Atem nicht allein mir gehört, sondern etwas ist, was sich zwischen mir als Bewusstsein, dem Leib und der Welt abspielt, hat ihre Wurzel in dem Faktum, dass die Atmung letztlich nicht unserem Willen unterliegt: Wir können sie zwar für eine bestimmte Zeit anhalten oder beschleunigen, aber die Spielräume sind hier sehr begrenzt, dann sprechen wir davon, dass „es in uns atmet“. Der Unterschied in meiner Erfahrung, zwischen „mein Atem geht rasch oder ruhig“ und „ich atme rasch oder ruhig“, ist fließend und unscharf ebenso wie die Grenze zwischen der Luft als Bestandteil der äußeren Welt, die ich einatme, und meinem Atem, der in mir ist. Dies erklärt, warum das Atmen als gleichsam reinste Form der Beziehung zur Welt in westlichen wie östlichen Philosophien und Praktiken, etwa in Atemschulen, Achtsamkeitskursen, Techniken des sogenannten autogenen Trainings, aber natürlich auch im Zen-Buddhismus so hohe Aufmerksamkeit erfährt.17

      Ein Wort von Rose Ausländer lautet: „Mein Atem heißt Jetzt!“ Der Atem ist seit jeher das Zeichen des lebendigen Inder-Welt-Seins und gleichzeitig des Mit-der-Welt-in-Verbindung-Stehens. Deshalb legen asiatische Meditationspraktiken wie indisches Yoga, chinesisches Tai-Chi oder Qigong den Schwerpunkt ihrer spirituellen Praxis auf die Atmung. Auch im Alten Ägypten und in Griechenland schätzen die Menschen die leiblich geistige Heilwirkung des Atems. 4000 Jahre alte ägyptische Grabinschriften berichten von der wundersamen Heilkunst des Atems. Menschen können also gar nicht anders, als miteinander in Resonanz zu treten. Um es mit dem markanten Satz von Martin Buber zu sagen: „Im Anfang ist die Beziehung. Der Mensch wird am Du zum Ich.“18

      Neben der Haut, dem Atem, der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung ereignet sich eine weitere Grundbewegung einer Weltbeziehung, die sich des Atems und des Kehlkopfs bedient, um die Stimme des Menschen als „Fingerabdruck seiner Seele“ hörbar zu machen. Mit ihr tritt ein Mensch mit der Welt in Verbindung und lädt diese zum Antworten ein. Eine Variante jüdischer Tradition sieht deshalb im Kehlkopf den Sitz der menschlichen Seele; seine vornehmste Aufgabe besteht demnach darin, ihr eine Stimme zu geben und dabei darauf zu achten, dass beim Sprechen die Grundmelodie stimmt, der Ton hinter den Worten und zwischen den Zeilen dem Gesagten nicht entgegensteht. So betrachtet, dürfen wir die Stimme eines Menschen als „hörbar gemachte Atmung“ verstehen, sie im besten Sinne des Wortes als ein hauchendes, ein „spirituelles“ (lat. „spirare“ – atmen) Geschehen verstehen und „Spiritualität“ – jenes verletzliche und oft viel zu schnell verstandene und von allen möglichen Gruppen vereinnahmte Wort – als Hilferuf begreifen, in dieser (kalten) Welt nicht allein gelassen zu werden.

      Als so verstandenen Ausdruck des Seelischen führt die Stimme den Menschen immer zu sich selbst und gleichzeitig über sich selbst hinaus. Wie der Körper die Luft zum Atmen braucht, braucht die Seele, um durch und durch lebendig zu bleiben, die „Ekstase“, das Aus-sich-Herausgehen, die Mit-Teilung, die Möglichkeit und Fähigkeit, sich anderen mitzuteilen und an deren Leben teilzuhaben.

      In der menschlichen Entwicklung macht das Kind die elementare Erfahrung, dass es über ein Organ verfügt, durch dessen Gebrauch es eine Wirkung in der Welt hervorruft. Nach und nach lernt es, diese Wirkung als eine Antwort zu verstehen, die nicht mechanisch nach dem Ursache-Wirkung-Schema erfolgt, sondern in aller Regel einen entgegenkommenden Charakter trägt. Seine Stimme lockt die Mutter herbei und führt zu liebevoller Berührung, zu Streicheln, Körperkontakt und vor allem auch Nahrung. „Die Stimme sichert die Entbehrlichkeit der Blutgemeinschaft, sofern sie die Herbeirufbarkeit von Milch bedeutet. Draußensein heißt Rufenkönnen. Ich rufe, also bin ich. Dasein bedeutet von diesem Moment an im Erfolgsraum der eigenen Stimme existieren“, formuliert Peter Sloterdijk und vermutet in diesem Zusammenhang den Ursprung menschlicher Sprach- und Symbolfähigkeit: „So setzt die Symbolgenese wie auch die Ichbildung durch Stimmbildung ein; mit gutem Recht haben Thomas Macho und andere der Stimme, die zum Ohr der Mutter führt, Eigenschaften einer vokalen Nabelschnur zugeschrieben.“19

      Der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels (geb. 1934) erkennt in der leiblichen Resonanzfähigkeit, welche die Stimme des anderen im eigenen Leib mittönen lässt (und umgekehrt), eine Voraussetzung dafür, dass die Stimme zu einem „Antwortregister“ werden kann. So wird der innere Zusammenhang von Stimme und Stimmung deutlicher und das Hören der fremden Stimme im Hörenden bewirkt ein schweigendes Mittönen der gehörten Stimme. Diesen Resonanzeffekt erleben Menschen auch, wenn sie ihre eigene Stimme auf Tonträgern hören. Beim Sprechen oder Singen hören sie sich selbst mit dem inneren und dem äußeren Ohr, während sie ihre eigene Stimme auf Tonträgern nur von außen hören, was einige Menschen irritiert und verunsichert. Diese Verdoppelung der Wahrnehmung ist ein wesentliches Merkmal der menschlichen Stimme und die von der Stimme gestifteten Resonanzbeziehungen erweisen sich wiederum als doppelseitig zwischen Leib und Seele einerseits und zwischen Subjekt und Welt andererseits. Beide Male treten hier physische und symbolische Resonanzen miteinander in Wechselwirkung. „Nimmt man an, dass der ganze Kosmos beseelt ist, so kann die Seele auf gewisse Weise in alles einstimmen, so wie in der grauen Vorzeit laut Platon Menschen mit Tieren redeten und sogar philosophierten.“20