aufgegeben und war mit Jonte zu ihren Eltern gezogen.
Für Ron war das eine Katastrophe, auf die er nicht gefasst gewesen war. Als hätte sich alles gegen ihn verschworen, war kurz darauf auch noch sein berufliches Fiasko gefolgt. Es hatte sich angefühlt, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Noch keine dreißig und schon am Ende. Er hatte Monate gebraucht, um wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen.
Aber nun schien es allmählich aufwärtszugehen. Und jetzt bot sich ihm auch noch die Gelegenheit, seinem Sohn durch seine Programmierkunst mal etwas zu geben, nachdem er ihm zuvor so viel genommen hatte.
Ron griff nach seinen Collegeblock und kritzelte eine Skizze auf das Papier. Er wollte den Berg in die Mitte seiner Insel einfügen. Am einfachsten schien es ihm, die Grundfläche der Insel entsprechend zu vergrößern. Also berechnete er grob die Ausmaße der geplanten Anhöhe und gab die Daten in sein Programm ein. Prompt entstand in der Mitte des Dschungels ein grauer Fleck. Einige Tastenanschläge später erhob sich an dieser Stelle ein mächtiger Berg. Ron ließ ihn fürs Erste kahl – die Eigendynamik der virtuellen Pflanzenwelt würde ihn schon bald begrünt haben. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Innere des Berges. Er suchte auf seinem Rechner nach dem alten Adventure. Natürlich konnte er es nicht einfach in den Programmcode kopieren, weil er seinerzeit mit anderen Grafikstandards auskommen musste, aber zumindest brauchte er das Rad nicht neu zu erfinden, sondern konnte sich an seinen alten Entwürfen orientieren. Nach und nach entstand ein Höhlenlabyrinth, in dem es für Jonte jede Menge zu entdecken gab.
Als Ron den Rechner endlich herunterfuhr, graute draußen bereits der Morgen. Müde erhob er sich von seinem Bürostuhl und schlurfte ins Badezimmer. Dieser Tag war ziemlich lang gewesen. Bevor er selbst ins Bett ging, warf er noch einen zärtlichen Blick auf seinen friedlich schlafenden Sohn. Es war schön, ihn bei sich zu haben, und er freute sich schon jetzt darauf, Jonte die neuen Erweiterungen der Spielwelt entdecken zu lassen.
Er ging in sein Schlafzimmer, legte sich ins Bett und wartete auf den Schlaf. Es dauerte eine Weile, bis seine überreizten Nerven zur Ruhe kamen und plötzlich fiel ihm ein, dass Jonte Angst im Dunkeln hatte. Wäre eine Höhle wirklich der geeignete Spielplatz für ihn, selbst wenn sie nur virtuell war? Aber ehe er den Gedanken zu Ende denken konnte, hatte der Schlaf ihn übermannt.
Kurz darauf, wie es ihm schien, wurde er unsanft von Jonte geweckt, der energisch an seiner Bettdecke zog. „Aufstehen, Papa! Ich will Alf besuchen!“
Ron schielte auf die Uhr. Er hatte gerade mal vier Stunden geschlafen. Aber Jonte kannte keine Gnade. Mit aller Kraft zog er an der Decke, und als sie nicht nachgab, kletterte er kurzerhand auf den Bauch seines Vaters.
„Au-uf-ste-he-hen“, kommandierte er, während er rhythmisch auf und nieder wippte. Ron stöhnte und spannte die Bauchmuskeln an. Unauffällig griff er nach seinem Kopfkissen, riss es mit Schwung unter seinem Kopf hervor und traf seinen Sohn damit an der Schulter. Prompt verlor dieser das Gleichgewicht und kegelte ins weiche Bett. Mit lautem Kriegsgeheul stürzte er sich auf seinen Vater und versuchte, ihm das Kissen abzunehmen. Eine wilde Toberei entbrannte, bis schließlich beide schnaufend und lachend nebeneinander lagen.
Als Ron wieder zu Atem kam, sagte er: „Was hältst du davon: Du holst die Brötchen, und ich decke den Tisch?“
„Okay Papa, dann brauche ich aber Geld. Darf ich mir auch einen Comic kaufen?“
„Meinetwegen.“ Ron angelte nach seiner Jeans und zog das Portemonnaie aus der Gesäßtasche. „Hier, fünf Euro sollten reichen.“
„Danke Papa!“
„Aber erst ziehst du dich mal an! Und Zähneputzen nicht vergessen!“
„Habe ich schon! Guck!“ Jonte bleckte sein Gebiss.
„Ist gut, ist gut, ich glaub dir ja!“
Ron stemmte sich aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer. Die Dusche vertrieb den Rest seiner Müdigkeit. Er drehte das Wasser heißer und genoss die Wärme, die durch seinen Körper strömte. Dann schob er den Hebel auf kalt. Erfrischt trocknete er sich ab, zog Hemd und Jeans an und deckte den Frühstückstisch.
Er spürte, wie gut ihm die Gegenwart seines Sohnes tat. Ein lebendiger Mensch war doch etwas anderes als ein Computer – auch wenn die virtuellen Welten noch so gut programmiert waren.
Es rappelte an der Tür. Jonte kam mit den Brötchen zurück. Während des Frühstücks sprudelte er wie ein Wasserfall. Haarklein erzählte er, was er auf der Insel gesehen hatte und wie gut er sich mit Alf verstand.
Ron war beeindruckt. Diese Erzählung klang ganz und gar nicht nach einem Computerspiel, eher nach einem Ferienabenteuer. X-World war offensichtlich überzeugend – zumindest für Fünfjährige. Er hoffte zutiefst, dass die koreanischen Geschäftsleute es ähnlich empfanden, denn davon hing seine Zukunft ab.
Jonte konnte es kaum erwarten, endlich das Cyberzeug anzulegen und die neue Welt zu betreten, die sein Papa extra für ihn erschaffen hatte – und zwar nach seinen Vorschlägen, wie er mehrere Male stolz bemerkte. Diesmal ließ Ron den Ton ausgeschaltet. Er war überzeugt, dass es Jonte gut ging, und machte sich daran, die bevorstehende Präsentation bei Future Computing vorzubereiten. Dazu war es notwendig, einen Mehrspielermodus einzurichten. Er vertiefte sich in seine Arbeit.
Derweil wanderte Jonte durch einen wunderschönen tropischen Regenwald. Er lauschte auf die Schreie von Affen und Papageien und staunte über die Farbenpracht exotischer Blumen, die um ihn herum wuchsen. Er war auf der Suche nach Alf. Zu dumm, dass sie keinen Treffpunkt vereinbart hatten!
Doch selbst dann wäre es schwierig geworden, denn die Geographie der Insel hatte sich seit seinem letzten Besuch entscheidend verändert. Mitten im üppig grünen Wald erhob sich nun ein Berg. Staunend sah Jonte die mächtigen Steilhänge hinauf. Ob da oben wohl Schnee lag? Bestimmt gab es hier Höhlen. Das hatte sein Vater ihm versprochen.
Wo sein Freund bloß steckte? Er rief ihn, so laut er konnte, aber statt einer Antwort hörte er nur das Echo, das von den Felswänden zurückgeworfen wurde.
Hatte sich dort nicht etwas bewegt? Vielleicht wollte Alf spielen und versuchte, sich unbemerkt an ihn heranzuschleichen. Aber daraus würde nichts werden! Jonte versteckte sich schnell hinter einem Felsbrocken und beobachtete den Schatten, der sich zwischen den Pflanzen bewegte. Dann stutzte er. Das, was er da sah, war eindeutig zu groß für Alf.
Ein mächtiger Tiger trat aus dem Gebüsch heraus und strebte dem bewaldeten Berghang entgegen. Jonte zuckte zusammen. Fieberhaft überlegte er, was er tun könnte. Weglaufen ging nicht, das Gelände bot keine Deckung, außerdem schätzte er, dass der Tiger mindestens dreimal so schnell laufen konnte wie er. Was hatte sein Vater sich nur dabei gedacht? Fürs Erste schien er in seinem Versteck sicher zu sein, aber wenn die Raubkatze näher kam …
Plötzlich kam ihm eine Idee. Er legte die Hände zusammen und breitete die Arme aus. Augenblicklich hörte er ein leichtes Rauschen in seinen Ohren.
„Ja, Jonte, was ist?“, hörte er die vertraute Stimme seines Vaters.
„Papa, hier ist ein großer Tiger!“, flüsterte Jonte.
„Ja natürlich, Jonte, den hast du dir doch gewünscht! Ich habe ihn extra für dich gemacht. Gefällt er dir?“
„Ich habe Angst!“, flüsterte Jonte.
„Das brauchst du nicht“, gab Ron zurück. „Du hast dir einen lieben Tiger gewünscht, und der hier ist lieb. Aber ich kann dich verstehen, mir hat er beim ersten Mal auch einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Er heißt übrigens Joey!“
„Echt? Das ist ja witzig!“, sagte Jonte.
„Wieso?“
„Weil ich einen Stofftiger habe, der genauso heißt. Weißt du das nicht mehr? Den hast du mir doch geschenkt!“
Ron war perplex. War es Zufall, dass Alf gerade diesen Namen ausgewählt hatte, oder gab es einen inneren Zusammenhang? Er beschloss, dieser Frage später nachzugehen. Im Moment musste er sich auf die bevorstehende Präsentation konzentrieren.