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Weihnachtswundernacht 3


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Die Bibel! … Das Lukasevangelium. Sagt Ihnen das was? Ich glaube, das steht alles im zweiten Kapitel.“ Seine Stimme überschlug sich: „Soll ich es Ihnen vorlesen? Im Studium haben Sie den Part ja offensichtlich verschlafen.“

      Der Pfarrer brummte: „Seien Sie doch so freundlich!“

      Aufgeregt knallte Joachim den Hörer auf den schon fertig gedeckten Tisch, lief zum Regal, um die Familienbibel zu holen, die für Weihnachten bereitlag, und blätterte mit fahrigen Bewegungen, bis er das Lukasevangelium gefunden hatte.

      Da!

      Zweites Kapitel.

      Er nahm den Hörer wieder auf und begann vorzulesen, schnell und energisch: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn. Und als acht Tage um waren und man das Kind beschneiden musste, gab man ihm den Namen Jesus, wie er genannt war von dem Engel, ehe er im Mutterleib empfangen war. Und als die Tage ihrer Reinigung nach dem Gesetz des Mose um waren, brachten sie ihn nach Jerusalem …“

      Joachim stutzte.

      Pfarrer Noel aber sagte in die Pause hinein: „Ja, richtig. Genau so kenne ich den Text auch.“

      Der junge Mann musste schlucken. Dann stotterte er: „Ja … aber … aber … Das verstehe ich nicht. Wo ist denn das alles hin … das mit dem Stall … und den Hirten … und den Engeln auf dem Feld? Dieser wunderbare Ruf ‚Fürchtet euch nicht!‘? Und … die überfüllten Gasthäuser …?“

      Völlig verwirrt blätterte er ein paarmal die Seiten vor und zurück. Fand aber nicht, was er suchte. „Jetzt begreife ich überhaupt nichts mehr.“

      Erleichtert sagte der Theologe: „Sehen Sie, die Geburtsgeschichte Jesu hat in der Kirchengeschichte nie eine besondere Rolle gespielt. Deshalb hat sich dazu auch kein Brauchtum entwickelt. Wahrscheinlich, weil die kurze Beschreibung bei Lukas so unspektakulär war. Und die anderen Evangelien erzählen ja überhaupt keine Geburtsgeschichte. Entscheidend ist doch, wie Jesus gelebt hat – und dass er am Kreuz für uns gestorben ist.“

      „Das gibt es nicht! Ich begreife das … nicht.“

      Der Pfarrer war jetzt ganz verbindlich: „Wenn Sie möchten, komme ich gerne morgen mal vorbei und rede mit Ihrer Tochter über diese schönen Kindheitslegenden Jesu, die Sie mir da vorhin erzählt haben …“

      „Das sind keine Legenden! Das ist Weihnachten!“ Joachim musste sich am Tisch festhalten.

      „Entschuldigen Sie, wenn ich da noch mal nachhake. Warum ist Ihnen das denn so wichtig?“

      Mit letzter Kraft ließ sich Joachim auf einem Stuhl nieder. Gedankenverloren sagte er: „Warum? Ja, warum? Vielleicht … Weil es etwas ganz Besonderes ist, dass Jesus nicht in einem Haus, sondern in einem Stall zur Welt kam … Weil es vor Augen führt, wie klein sich Gott gemacht hat, um uns Menschen nah zu sein … Und weil mich dieser Ausruf des Verkündigungsengels ‚Fürchtet euch nicht!‘ jedes Jahr neu stärkt und ermutigt. Darauf will ich nicht verzichten …“

      Pfarrer Noel sagte sanft: „Was denken Sie, soll ich morgen mal vorbeikommen?“

      „Morgen ist Feiertag!“

      Der Theologe lachte. „Warum sollte morgen Feiertag sein?“

      „Weil Weihnachten ist.“

      Wütend knallte Joachim den Hörer auf die Gabel.

      Dann ging er zum Fenster und zog mit einem Ruck die Gardine zur Seite.

      Nichts!

      Kein geschmücktes Haus.

      Keine Lichterketten.

      Kein blinkender Weihnachtsstern in den Fenstern.

      „Was ist denn bloß los?“

      Joachim fühlte sich, als hätte er zu viel getrunken.

      Dann aber raffte er sich auf, stürmte ins Treppenhaus und dann die Stufen hoch ins Dachgeschoss.

      Andrea öffnete ihm auf sein stürmisches Klingeln hin mit einem etwas genervten Gesichtsausdruck. Doch als sie den Besucher sah, zog sie erstaunt die Augenbrauen zusammen: „Joachim. Was ist denn los? Du bist ja ganz blass. Geht es dir nicht gut? Ist was mit Charlotte oder Annette? Komm doch erst mal rein.“

      Er stolperte in die Wohnung und fragte: „Wo ist euer Weihnachtsbaum?“

      Andrea machte die Tür hinter ihm zu. „Unser was?“

      „Euer Weihnachtsbaum. Ihr habt doch sonst immer so eine tolle Nordmanntanne mit viel Lametta und so.“

      Die Nachbarin grinste: „Jojo, mein lieber Schwan. Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, aber eines ist offensichtlich: Du hast ganz schön einen gebechert. Und das mitten in der Woche am helllichten Tag. Sag mal: Wieso bist du eigentlich zu Hause? Hast du heute frei?“

      Mit einem lauten Stöhnen ließ sich Joachim in die Couch-Garnitur fallen. Verzweifelt. Einige Minuten lang sagte er gar nichts.

      Dann lief plötzlich ein Lächeln über sein Gesicht. „Sag mal, habt ihr – also: du, Michael und die Kinder – heute Abend schon was vor? Nein? Das ist ja klasse. Weißt du: Ich würde euch nämlich gerne einladen. Zu einem Fest. Einem ganz besonderen Fest. Und ich würde euch dabei eine Geschichte erzählen, von der ich glaube, dass ihr sie kennen solltet. Weil sie einfach wunderschön ist.

      Und glaub mir: Ich bin nicht betrunken. Kein bisschen. Nur ein wenig erstaunt …“

      FABIAN VOGT

       Maria

      Eine starke Frau in einer schwierigen Situation in einer unruhigen Zeit, eine Frau, die von Anfang an das Leben Jesu ermöglicht, begleitet und mit durchlitten hat. In ihr begegnet uns das Urbild der Mutter, die einerseits mitten im Geschehen steht und andererseits seltsam im Abseits. Von Anfang an muss Maria es lernen, loszulassen und mit dem Wissen zu leben: Dieses Kind „gehört“ mir nicht, es ist das Kind Gottes – ein Mensch, der für andere da sein soll und wird und dabei am wenigsten für mich, seine Mutter. Ein Leben für andere – schon gleich die Geburt des Kindes wird zu einem öffentlichen Ereignis – für die „Hirten auf dem Feld“, für die „Weisen“ und auch für Herodes. Von Anfang an liegt der Schatten solch einer Öffentlichkeit auf dieser Frau und ihrer jungen Familie, sie müssen fliehen, sich dieser Öffentlichkeit entziehen und dorthin gehen, wo keiner sie kennt – nach Ägypten.

      Ich lerne von Maria, dass auch unsere Kinder uns nicht gehören, dass sie ein Geschenk Gottes sind und dass es Aufgabe der Mutter, des Vaters ist, diese Kinder zu schützen, zu fördern, sie aber dann auch ihre eigenen Wege gehen zu lassen. Nach und nach und seltsam aus dem Abseits gilt es, diese Gotteskinder lieb zu haben und mehr und mehr loszulassen.

      Maria kannte Jesus wie sonst niemand, und doch musste sie sehr bald erkennen, dass es da eine Seite an ihrem Sohn gab, zu dem sie als Mutter und engste Bezugsperson keinen Zugang hatte. Ich denke an die Erzählung über den zwölfjährigen Jesus im Tempel. Der jugendliche Jesus war scheinbar im Trubel des Passahfestes verloren gegangen – alle Eltern, die schon einmal ein abhandengekommenes Kind verzweifelt gesucht haben, wissen, was Maria in dieser Situation durchgemacht hat. Als sie Jesus schließlich im Tempel umringt von einigen Schriftgelehrten finden und ihn mit einer Mischung aus Wut und Erleichterung zur Rede stellen, fragt er sie verwundert: „Wisst ihr nicht, dass ich in meines Vaters Haus sein muss …“

      Nein,