Ursula Klein

Geburtsort: Königsberg


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zu Auseinandersetzungen. Die Landwehr – hoch zu Ross - arbeitete mit Gummiknüppeln. Die Demonstranten antworteten mit Steinen und Stöcken. In solchen Situationen wurden die Straßen zum Risikofaktor. Aber im Vergleich zu anderen Städten ging es noch friedlich zu.

      Auch heute hörte Mutter schon von weitem die Blaskapelle. Immer näher kamen auch die Geräusche von vielen Menschen. Schnell riss sie das Fenster auf und rief ängstlich nach den Kindern. Sie kamen auch gehorsam bis zum Haus und stellten sich unter das Fenster. Bettelnd hörte Mutter sie sagen: „Mutter, wir wollen doch nur sehen, wie die Menschen marschieren. Die Musik ist doch so schön!“ Und tatsächlich: es war eine Musik, die zum Mitmarschieren animierte. Der Zug musste sich erst am Bahnhof formiert haben, denn es waren noch nicht so viele Menschen und alle liefen friedlich und hielten Plakate in den Händen. Fritz war kaum zu halten – unbewusst setzte er im Rhythmus der Musik seine Beine und war schon am Hausende, als Mutter das sah. „Fritz! Bleib hier! Komm sofort zurück“, war ihre bestimmte und zugleich ängstliche Stimme. Und Fritz strahlte seine Mutter an, sattelte sein Gewehr, das aus einer Holzstange und einem Strick bestand, machte kehrt in Richtung Mutter und sang begeistert: „Ritz, Mutterke, de Landwehr kimmt! Se piepe schon, se drommle schon … “

      Mutter war fassungslos. Dass der Junge so viel Spaß an dieser Sache haben konnte, machte sie noch ängstlicher, als sie ohnehin schon war, wenn sie eine Demonstration sah. Na ja, er ist ja noch so klein und kann die Gefahr nicht begreifen, beruhigte sie sich selbst. Doch gerade deshalb wurde sie energisch: „Du kommst jetzt sofort rein! Und außerdem wird nicht plattdeutsch gesprochen, das weißt du!“ Den Ton kannte Fritz, da gab es keine Widerrede, sonst rechnete am Abend Vater mit dem Lederrriemen ab. Aber der Demonstrationszug war auch schon fast vorbei und darum war auch bald wieder alles uninteressant.

      Als am Abend Vater nach Hause kam, wurde natürlich über die Demonstration gesprochen. Aber Vater beruhigte die Mutter: „Wenn die Landwehr nicht auf der anderen Seite der Straße steht, kann eigentlich nichts passieren.“

      Trotzdem erklärte Vater noch einmal allen Kindern mit ernster Mine, dass sie sofort zu Mutter nach Hause kommen müssten, weil auch geschossen werden könnte und auch viele unbeteiligte Passanten in diesen Kampf einbezogen würden. „Erst vergangene Woche“, so erzählte er überzeugend, „ist eine Demonstration von den Arbeitern der Elektrizitäts- und Stadtwerke und der Straßenbahn – andere Demonstranten hatten sich noch angeschlossen - von der Landwehr aufgelöst worden. Sie kamen auf Pferden und schlugen auf die Menschen wahllos ein, so dass viele verwundet wurden, weil sie nicht rechtzeitig ausreißen konnten. Dabei wurden auch Kinder und Jugendliche, die sich die Demonstration ansehen wollten, getroffen. Viele Arbeiter wurden auch von der Polizei festgehalten und auf Autos geladen. Keiner wusste, wohin die Leute gebracht wurden. Aber sicher werden sie bestraft.“

      Hier machte er eine Pause und schaute seine Kinder der Reihe nach an. „Wir möchten nicht, dass euch etwas passiert, nur weil ihr neugierig seid. Habt ihr uns verstanden?“ Alle Kinder nickten mit dem Kopf. Sie hatten verstanden. Ihren Eltern wollten sie keinen Kummer machen. Aber innerlich zweifelten doch Hanna und Fritz, ob es denn wirklich so gefährlich sei, auf der Straße zu stehen und zuzusehen, wie die Menschen demonstrieren. Die Musik hatte doch auch Erwachsene auf die Straße gelockt. Aber – sie wollten und mussten ja gehorchen. Damit war das Thema für alle Kinder erledigt und sie konnten am nächsten Tag wieder drüben im Wäldchen oder im Hof spielen.

      Doch für Vater Krohn war das Thema noch nicht beendet. Als die Kinder im Bett waren, erzählte er, dass in seiner Hauptwerkstatt Arbeiter entlassen worden seien, die gut gearbeitet hatten, aber den Ruf hatten, Kommunisten zu sein. Was war das nur für eine aufregende Zeit! „Otto“, sagte Anna, „wir haben unseren Glauben an Gott und Jesus Christus. Wir haben unseren Halt und können uns immer in unserer Not an IHN wenden. Auch wenn unsere Zukunft und die unserer lieben Kinder noch ungewiss und sorgenvoll erscheint, wir können uns an Gottes Wort aufrichten. Höre, was ich hier gerade in der Bibel aufgeschlagen habe: ‚Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind.‘ Das steht im 46. Psalm. Ist das nicht tröstlich? Wir brauchen vor der Zukunft keine Angst zu haben. Der Herr ist bei uns, was auch noch alles passieren mag.“

      Otto und Anna knieten nieder und dankten Gott von Herzen, der ihnen durch die Heilige Schrift die Antwort auf ihre Alltagsfragen gegeben hatte.

      Bereits nach ein paar Wochen – am 3. März 1919 – wurden in der Stadt die Stadtverordneten nach dem neuen Wahlrecht gewählt. Auch Otto und Anna Krohn waren zwar widerstrebend, aber letztlich doch entschlossen zur Wahl gegangen, um der Arbeiterpartei ihre Stimme zu geben. Durch das Wahlergebnis war geklärt, dass die USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und die SPD die Verantwortung für Königsberg unter Mitwirkung der Deutschen Volkspartei, der Demokraten, der Deutschnationalen und der Zentrumspartei übernommen hatten.

      August Winnig als Reichskommissar für Ost- und Westpreußen, der seinen Sitz in Königsberg hatte, war ‚Fachmann gegen die Gefahr, die Ostpreußen von der Sowjetunion‘ her drohte. Sein Ziel war, die Staatsautorität mit Hilfe der gewählten Parteien wieder herzustellen und für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

      Die „Matrosenwehr“ als Teil des „Ostpreußischen Provinzial-Arbeiter- und Soldatenrates“ hatte jedoch zum Ziel, der sowjetischen Weltrevolution nachzueifern. Darum konnte sie nicht mit einer Umwandlung in eine „Einwohnerwehr“ einverstanden sein. Um diese Gefahr für seine Zielstellung auszuschalten, nutzte Winnig seine Machtbefugnisse, die Freikorps gegen die Roten Matrosen einzusetzen und sie als Widerstandsnest zu liquidieren. Das Blutbad am 4. März wurde von vielen - auch von den Sozialdemokraten – verabscheut. Die Königsberger Regierung hatte ihre erste Zerreißprobe, an deren Ende nur in letzter Minute ein Generalstreik verhindert werden konnte. Winnig erreichte aber trotzdem, dass eine Neuordnung der Volkswehr als kasernierte Truppe unter der Befehlsgewalt eines Generals genehmigt wurde und außerdem eine neue Sicherheitspolizei für Ruhe und Ordnung in der Stadt verantwortlich war. Damit hatte er die Gefahr eines bolschewistischen Umsturzes abgewandt und die neuen demokratischen Organe konnten ihre Arbeit im Sommer aufnehmen.

      Schneller als gedacht gewöhnten sich alle Königsberger wieder an Ruhe und Ordnung. Die Kinder gingen wieder brav zur Schule – einige kamen nach dem Unterricht mit rot geschwollenen Fingern nach Hause. Die Väter gingen zur Arbeit, die Mütter machten den Haushalt, am Sonntag gingen alle zur Kirche.

      Ostern kam Herta in die Schule, die war genauso aufgeregt wie damals Hanna. Auch sie bekam einen Schulranzen, der – wie bei den Geschwistern – acht Jahre halten musste. Hannas war schon etwas lädiert und musste öfter zum Schuster gebracht werden, damit er einen Flicken draufsetzte oder die Schnallen erneuerte. Jedesmal schaute Hanna ihre Mutter schuldbewusst an und beteuerte, in Zukunft mit dem Ranzen vorsichtiger umzugehen.

      Doch lange währte die Ruhe nicht. Aufgeregt kam Vater Anfang Mai mit einer Zeitung nach Hause. Er war furchtbar aufgeregt und sagte nur immer wieder: „Das ist ja furchtbar, das können die mit uns doch nicht machen! Wie sollen wir denn da noch leben!“ Dabei hielt er die Zeitung hoch und sagte: „Mutter, komm schnell her! Das muss ich dir vorlesen!“ Er konnte es kaum erwarten, bis er in seinem Sessel am Ofen saß und Anna neben ihm stand.

      „Hör mal her!: In Versailles haben die Siegermächte Friedensbedingungen für Deutschland festgelegt:

      Das Reichsheer wird auf maximal 100.000 Mann dezimiert, das hauptsächlich nur zur Grenzsicherung eingesetzt werden soll, die Reichsmarine darf maximal nur noch 15.000 Mann haben, die auf normalen Schiffen Dienst tun, U-Boote und Luftstreitkräfte darf Deutschland überhaupt nicht mehr haben und die allgemeine Wehrpflicht soll abgeschafft werden. Das ist ja noch nicht so schlimm. Aber, was viel wichtiger ist: Deutschland muss die überseeischen Besitzungen abtreten, Japan und China müssen entschädigt werden, Deutschland wird für die Wiedergutmachung der Schäden an der Zivilbevölkerung verantwortlich gemacht, insgesamt 269 Milliarden Goldmark sollen wir zahlen!

      Aber was das Allerschlimmste ist: