ich war zu feige. Doch Gerd lächelte mich nur an und wollte mit dem Essen beginnen. Da es zur Feier des Tages einen belegten Tortenboden gab, drückte er den Kuchenlöffel in den Kuchenrand – und schwups – war das Stückchen auf seiner Hose. In Blitzesschnelle hatte er einen hochroten Kopf . Erschrocken suchte er das Stückchen auf dem Fußboden, fand es und steckte es in den Mund. Mutti tröstete sofort: „Das ist nicht schlimm, das Ihnen das passiert ist. Der Kuchenrand ist etwas hart geraten. Ich muss mich dafür bei Ihnen entschuldigen. Ihre Hose ist doch nicht beschmutzt?“
Aber in unserer Familie gab es immer genug Gesprächsthemen und Mutti lenkte gleich ab.
Unter dem Tisch fanden sich unsere Hände, die wir verstohlen drückten. Schneller als vermutet, hieß es dann aber: „Nun muss Gerd aber gehen, sonst verpasst er die Waldbahn.“
Ich brachte ihn die Treppe hinunter. Er nahm mich ganz fest in seine Arme. Der lange, innige Kuss hatte mich so aufgewühlt, dass ich vor lauter Freude und Erregung drei Stufen mit einem Mal nahm, bis ich wieder, viel zu früh, in der Wohnung war. Ich war noch total erregt und nicht fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, als ich – wie aus der Ferne – meine Mutti hörte: „Na, wie hat es ihm bei uns gefallen?“ „Das kann ich dir gar nicht so eindeutig sagen, ich habe ihn nicht gefragt“, war meine schnelle Antwort. Mein Gedanke war nur: hoffentlich fragt sie nicht, was wir so lange im Flur gemacht haben. Wir hatten uns nämlich über nichts unterhalten, sondern nur immer und immer wieder geküsst. Und das war für mich das Wichtigste, denn es gab mir doch gleich Bestätigung, dass wir für ihn nicht zu ärmlich wohnten, er gegen das Beten nichts hatte und er mich ebenfalls liebte.
Nach diesem Besuch von Gerd bei uns lag mein Leben in Gedanken klar vor mir: es war ein gemeinsames, schönes Leben mit Gerd. Ich war mir meiner Sache so sicher, dass gar keine Fragen oder Zweifel mehr aufkamen.
Mir fiel nur auf, dass er gelegentlich nach Königsberg fragte, obwohl für mich mein Geburtsort keine so große Bedeutung hatte, denn ich lebte ja jetzt im Frieden, brauchte keine Angst mehr zu haben, hatte mein Essen, mein Zuhause und war außerdem noch glücklich und verliebt. Wenn er jedoch danach fragte, erzählte ich ihm dann so ein paar Einzelheiten aus dem Krieg. Für ihn waren dann meine Erzählungen wie Geschichten aus einem Bilderbuch.
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Die Zeit verging in Riesenschritten. Wir verloren allmählich die Einstufung bei den Einheimischen, „Flüchtlinge“ zu sein.
Jedoch die folgenden Beispiele brachten mir meine Vergangenheit im Laufe der Zeit wieder etwas zurück.
Wir wollten heiraten und meldeten uns beim Standesamt an. Zunächst musste ich natürlich dem Standesbeamten eingestehen, dass ich keine Geburtsurkunde besaß, sondern nur einen „Auszug aus dem Taufregister der Evangelischen Kirchengemeinde Königsberg/Pr.- Ponarth“. Diese Urkunde – von Mutti für die Lebensmittelkarten-Beschaffung über viele Beamtenwege - heiß erstritten wurde von uns immer lächelnd als „Existenzberechtigungsschein“ bezeichnet. Hier stutzte der Beamte, denn eigentlich war eine Heirat ohne Geburtsurkunde beamtenrechtlich gar nicht möglich. Zum anderen war ich angeblich in einem Ort geboren, den es gar nicht mehr gab. Darum machte er den Vorschlag: „Na, da schreiben wir doch beim Geburtsort Kaliningrad hin, das hat doch wenigstens eine konkrete Aussage!“ Kleinlaut protestierte ich: „Aber in der Bescheinigung steht doch „Königsberg/Pr.“, da kann man doch nicht einfach einen anderen Namen einsetzen – oder geht das?“ Er schüttelte nur verständnislos den Kopf und fügte sich dieser besonderen Situation.
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Viele Jahre später: unsere Tochter war – wie ich damals – verliebt. Eines Tages fragte mich der junge Mann: „Stimmt das wirklich, dass Sie in Grönland geboren sind?“ Ich schaute ihn zunächst verständnislos an. Er versuchte mich aufzuklären. „Na, Ihre Tochter hat doch gesagt, dass Sie ganz oben im Norden geboren sind – in Grönland.“ Da dämmerte bei mir etwas: Im Atlas war mein Geburtsort nicht mehr zu finden und ich hatte immer gesagt, dass Königsberg im Norden liegt. In der Folgezeit lächelten wir noch öfter über dieses Missverständnis.
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Die Informationen im West-Fernsehen wurden über die ehemaligen deutschen Gebiete immer umfangreicher – Kriegsfilme spiegelten Fluchtgeschichten wider, Berichte über Samland, Kurisches Haff, Königsberg, Masuren, das Bernsteinzimmer u. ä. kamen zwar vereinzelt, brachten mir aber ab und an Informationen über meine Heimat, die ich nur von Kriegserlebnissen her kannte. Äußerst interessiert hörten wir uns diese Berichte an, sahen die Filme und ich erkannte in einigen Situationen die eigene Vergangenheit.
Auch unsere Nachschlagewerke gaben uns nun schon mehr Informationen. So las ich im Universallexikon, das 1986 erschienen war, Königsberg:
1255 Gründung der Burg Königsberg
1457/1525 Sitz der Hochmeister des Deutschen Ritterordens
1525/1618 Sitz der Herzöge von Preußen
1618 ging Preußen an Brandenburg
1813 Ausgangsort der Erhebung Preußens gegen Napoleon I. K. hat 375.000 Einwohner, Industrie- und Kulturzentrum, Verkehrsknotenpunkt, Theater, landeskundliches Museum, zoologischer Garten, Fernsehsender, Maschinenbau, Lokomotiv- und Waggonbau, Reparaturwerft, Zellstoff- und Papierindustrie, Nahrungsmittelindustrie/Fischverarbeitung, Universität, 2 Hochschulen, bei K. mehrere Seebäder. Im 2. Weltkrieg wurde die zur Festung erklärte Stadt von faschistisch-deutschen Truppen von Januar 1945 bis zum 9. 4. 1945 hartnäckig verteidigt und dabei stark zerstört. Die faschistischen Truppen in K. wurden am 9. 4. 1945 von der Roten Armee zur Kapitulation gezwungen. Auf Beschluss der Potsdamer Konferenz wurde die Stadt mit etwa ein Drittel des ehemaligen Ostpreußens an die UdSSR übergeben. 1946 Umbenennung in Kaliningrad. Rascher Neuaufbau der Stadt.
Nun wurde es für mich und meinen Mann interessant. Das waren Informationen, die für uns völliges Neuland waren.
Dann kam die alles entscheidende Situation: Die Grenze zwischen der BRD und der DDR fiel über Nacht am 9. November 1989. Nun konnten wir in alle Länder reisen und unsere Verwandten in Westdeutschland besuchen. Meine Tante übergab mir während eines Besuches zwei Bücher mit Bildmaterial über Königsberg mit vielsagendem Blick und der Bemerkung: „Hier hast du die Bücher, damit du weißt, wo du herkommst, ich kenne das ja alles.“ Zunächst betrachtete ich diese Bücher als reine Information über eine Stadt, die ich nicht kannte. Aber je mehr ich mich mit der Geschichte der Stadt vertraut machte, um so verbundener fühlte ich mich mit ihr. Mutti hatte uns in unserer Kindheit auch anhand von familiären Erlebnissen viel aus der Zeit Königsbergs erzählt, als der zweite Weltkrieg diese Residenzstadt noch nicht zerstört hatte. Diese Erzählungen kamen spontan wieder hoch und anhand der Bücher wurden einige Begriffe vorstellbar.
Das Maschennetz der Neugierde über Königsberg zog sich immer enger. So berichtete mir auch mein Cousin, dass er mit einem Reiseunternehmen schon eine Bustour nach Königsberg gemacht hatte. Mein Mann war Feuer und Flamme: „Nächstes Jahr, wenn du Rentner bist, fahren wir mit unserem Auto nach Königsberg! Das sehen wir uns einmal richtig an. Vielleicht steht auch noch der Rest von dem Haus deines Großvaters, von dem du mir erzählt hast. Würdest du dich darüber freuen?“
Doch meine Reaktion war sehr verhalten darüber, denn ich konnte mich ja an das Königsberg aus der Literatur fast gar nicht erinnern. Ich hatte schlicht Angst, in eine Stadt zu fahren, die ich kennen sollte, aber nicht kannte. So wurde ich in meinen Gedanken hin- und hergerissen.
Zunächst besorgte ich mir weitere Literatur und versuchte, die historischen Seiten kennenzulernen. In einem Bildband fand ich in einer Straßenkarte auch den Platz, an dem das Haus meines Großvaters gestanden hatte. Ich war furchtbar aufgeregt, in Gedanken ging ich immer und immer wieder in das Haus hinein, in der Wohnung herum, versuchte den Weg zur Wohnung meiner Eltern mit der Straßenbahn nachzuvollziehen und konnte mehrere