Blick über einen Gesichtskreis von 180 Grad schwenken. Irgendwie nahm ich ein paar grosse Apparaturen und Instrumente um mich herum wahr, Beatmungsmaschinen, Röntgen- und Infusionsgeräte, und langsam dämmerte mir, dass ich mich im Herz eines „Emergency Rooms“, an der Schnittstelle zwischen Rettungswagen und Krankenhaus, befinden musste. Ich war nicht ganz wach, aber ich schlief auch nicht; es musste ein seltsamer Wachtraum sein, der mich mit seinen Schlangenarmen umzüngelte, ein halbwacher Zustand mit dem traumähnlichen Bild eines aus Fragmenten bestehenden Ereignisses.
Noch während ich erschöpft wieder die Lider schloss und mich mit einem Seufzer noch tiefer ins Bett sinken liess, wusste ich, dass ich nicht träumte. Niemals zuvor in meinem Leben war ich bei klarerem Bewusstsein gewesen. Es gab nicht den geringsten Zweifel. An der Wand auf meiner linken Seite leuchtete plötzlich ein grosser Lichtfleck auf und irgendwie starrte ich in einen kegelförmigen Spalt: „Komm da raus!“, rief ich unvermittelt. Aus dem rechten Augenwinkel nahm ich kurz eine Bewegung wahr. „Ich weiss genau, dass du da drinnen steckst!“
Die Leuchtkraft schien die ganze Wand zu überfluten. Es war, als sähe ich durch die geschlossenen Augenlider in ein beissendes Geflimmer. Eine weiße Lichtaura zog mich an und von einer Sekunde zur anderen entzündete sich ein Feuerwerk in meinem Hirn. Erst zirpende, kaum hörbare Stimmen, die immer höher kletterten, kreisende Geräusche, die sich immer schneller drehten und plötzlich hatte ich das innere Gespür, mit den Stimmen zu schweben und in die Ewigkeit aufzusteigen. Ich spürte, wie meine Wirbelsäule in rasende Vibrationen geriet. Irgendwie fühlte ich mich auf einmal in zwei Teile gespalten und gleichzeitig nahm ich den Leuchtfleck als Rahmen einer mir unsichtbaren Welt wahr, in der ich meinem Seelenführer begegnete, irgendwo zwischen Himmel und Erde.
„Zeig dich mir endlich!“ Meine Stimme zitterte vor Aufregung. „Oder bist du zu feige, dich mir zu stellen?“ Dann hörte ich ein leises Scharren, dem ein schürfendes Geräusch folgte. Das Leuchten schien sich auszudehnen und wieder zusammenzuziehen. Es hatte offenbar begonnen, in meine Richtung zu fliessen, denn der Lichtkegel wurde stärker und deutlicher sichtbar. Irgendwann bewegte sich der Spalt, und mir war, als ob jemand den Raum betrat. Um mich herum flutete ein strahlender Glanz.
Ich fühlte mich geistig wie berauscht, als dieses flimmernde Gefunkel wellenförmig auf mich zufloss. Ich versuchte aus den leuchtenden Flächen so etwas wie eine Form oder ein Gesicht herauszulesen; dazu liess ich meinen Blick über das glühende Objekt vor meinen Augen gleiten und sofort glaubte ich irgendwie vertraute Züge wahrzunehmen, die unter dem starken Lichtglanz zum Vorschein kamen, oder anders gesagt, ich wartete, bis die darunterliegenden Gesichtszüge durch die verblassende Glut hindurchschimmerten. Auch wenn ich nichts Genaues wahrnehmen konnte, so bildete ich mir ein, als ob es eine Erscheinung unter einer mächtigen Kapuze war, die sich mir aber nicht zu erkennen gab. „Erkennst du mich? Weisst du, wer ich bin?“, hörte ich eine Stimme, obgleich ich mir ziemlich sicher war, dass ich in diesem Augenblick nur träumte.
„Wo sind wir hier?“, brach es statt einer Antwort aus mir heraus. Meine Persönlichkeitsstruktur löste sich auf und ich bemerkte, wie eine fremde Energie durch mich hindurchfloss.
„Gleich wirst du dich wieder erinnern, allmählich wirst du die Situation verstehen, in der du dich befindest …“ Ich spürte einen eisigen Atem im Gesicht: „Mein Name ist Niemand. Ich bin der Wächter an der Schwelle und erscheine jedem in der Gestalt, in der er sich an mich erinnern kann …“
„Niemand?“ Es war, als ob die mir bekannte Realität zusammenbrach, denn neben meinem Bett sah ich plötzlich zwei flimmernde Augen aufleuchten, als würde ich von einem Hochenergielaser berührt. Das eine Auge brannte sich mir mit seinem Blick punktuell in den Geist oder das Denken ein, während sich das andere kreisförmig um das Empfinden meiner Seele legte, und sie wechselten sich im Rhythmus so ab, dass, wenn das eine in mir explodierte, ich mich in den freien Raum hinausgeschleudert fühlte und, wenn sich das andere in mir wieder zusammenzog, ich mich in Niemands Herzen angekommen fühlte. Zudem erblickte ich um die beiden Augen herum mein eigenes Gesicht: mitten im Zimmer, in dem ich mich befand, und das Leuchten war mein Augenlicht. „Versteh ich dich recht?“, hauchte ich aus dem hintersten Winkel meiner Seele.
„Absolut!“, erwiderte er. „Genauso, wie sich jeder Lebensabschnitt aus verschiedenen Handlungsabläufen und inneren Persönlichkeitsteilen zusammensetzt, ist auch der Tod ein Ereignis mit ganz unterschiedlichen Ausgängen. Dort, wo sich die geistigen Ebenen mit dem menschlichen Selbst schneiden, entsteht ein Durchgang, durch den das Ende in dich eindringen kann.“
„In mich eindringen? Davor bewahre mich Gott!“, brüllte ich. Geister und Dämonen tanzten auf meiner inneren Bühne und schleuderten ganze Armaden von Lichtspeeren auf mich. Mein mehrdimensionales Wesen flackerte einen Moment, dann begann sich meine Bewusstseinsbühne langsam zu verschieben, als ob sie sich zu einem anderen Blickwinkel auseinanderfalten wollte. Unfähig, mich zu rühren, konnte ich spüren, wie seine Energie in meinem Körper floss.
Er legte mir die Hand auf den Kopf und sagte: „Hab keine Angst! Während des Todes löst sich das gewohnte Ich auf und zerstäubt wie eine Handvoll tanzender Funken. Für das menschliche Ego hört sich das viel schlimmer an, als es wirklich ist. Es ist nur das geistige Herausfegen alter Bilder aus deinem Kopf: Ist dieses alte Gerümpel erst einmal aus deiner Seele verbannt, fühlt es sich im gleichen Augenblick schon sehr viel freier an …“
„Mir wird angst und bang …“, wimmerte ich, der Erschöpfung nahe. Ich spürte, wie sich mein Wesen ganz allmählich mit neuen Erkenntnissen füllte und der veränderte Geist die alten Prägungen aus mir herausdrängte.
„Jaja, ich weiss“, erwiderte er, „Niemand macht dir Angst. Es ist der rigorose Abbau alter gewohnter Beklemmungen in deinem Hirn. Spürst du die Wirkung? Bald bist du frei!“
„Was willst du?“, strömte der Schreck aus meiner Seele. Erschütternde Gewissheit breitete sich in mir aus. Als das Leuchten intensiver wurde, verloren sich die Umrisse seines Gesichts … sie begannen sich langsam zu verdunkeln.
„Ich bin auf deinen Ruf gekommen, um dir zu zeigen, wohin du gehen willst!“, sagte er und ein amorphes Objekt leuchtete an seiner Stelle.
Niemand schien einen empfindlichen Nerv in mir getroffen zu haben, denn ich fühlte, wie mir Tränen in die Augen traten. „Dann sag mir, wohin ich gehen will?“, schluchzte ich.
„Zu mir!“, antwortete er. „Ich sagte schon, dass Niemand für das Ende deines Egos steht, und das ist es, was dich antreibt: Du willst zu mir!“
„Zu dir?“ Ich war konsterniert. „Ist das mein Ziel?“
„Ja und nein. Jeder Mensch setzt seine persönliche Welt nach den eigenen Vorstellungen und Wünschen zusammen.“ Wieder bemerkte ich einen Lichtereffekt an der Stelle, wo ich sein Gesicht vermutete. Allmählich wurden die Gesichtszüge wieder deutlicher. „Aber du bist anders, hast ein anderes Ziel“, fuhr er fort. „Du möchtest die Gesamtheit deines Selbst erfahren, deshalb hast du mich gerufen.“
„Ist meine persönliche Welt denn eine andere?“, erlaubte ich mir sachkundig dagegenzuhalten.
„Gewiss“, bestätigte er, „du bist ein nörgelnder Skeptiker und magst die Menschen nicht, die sich traditionell verhalten.“ Die beiden Ebenen begannen sich ineinander zu verdrehen.
„Und wieso kann ich das alles hier mehrfach sehen?“, versuchte ich herauszufinden, denn gleichzeitig lag ich im Bett und konnte nicht nur Niemand, sondern auch noch ein paar weitere verschiedene Frequenzbereiche um mich herum deutlich wahrnehmen, die sich wie die Speichen eines Rades um eine imaginäre Nabe in meinem Kopf drehten.
„Du bist eben anders“, tat er mir kund. „Du weisst, dass die Beschreibung der Welt nur in deinem Kopf existiert und zwar durch die Brille, die dir dein Ego diktiert. Diese Sichtweise verändert sich im Leben je nach Verschiebung des Fokus, durch dessen Linse du die Welt betrachtest. Jede Veränderung der Perspektive verwandelt auch den Hintergrund, auf den sich die Erfahrung der ursprünglichen Sichtweise bezieht, und von verschiedenen Standpunkten aus kannst du verschiedene Assoziationsebenen aufrufen, die unbekannte