hierher kam und …?«
»Ja, det war se. Am 13. Dezember kam se wieder. Die Zeit war ja auch wieder ran. ’N hübschet Kleid. Sankta Lucia. Wie ’ne Puppe, sare ich Ihnen. Sie stand oben auf dem Steg, dann knipste ich den Scheinwerfer an, da wusste sie, dass ich zusah. Denn ging se zum Vorfluter und pinkelte. Mir ging det immer durch die Seele, wenn se in den sauberen Vorfluter pinkelte. Aber hübsch war se, wenn se so da oben stand. ’N schönet Mächen.«
»Ja, was weiter?«, drängte Günter. »Was geschah dann?«
»Wech!«, sagte Boglund. »Sie hat sich immer rechts am Jeländer festjehalten. Zurückzu auch. Aber überm Absetzbecken hatte ich auf der anderen Seite det Jeländer abjebaut. Es muss ja mal entrostet und jestrichen werden. Aber det konnte se nich sehn, der Scheinwerfer unten, da sah se nur Licht. Als se zurückkam, isset passiert. Innerlich hats mia ’n bisschen Leid jetan. Aber ich habe mia jesagt, wenn se da rüberkommt ohne Jeländer, denn is det ’n Zeichen, denn soll se eben weitamachen mit dem Vorfluter, wenns auch nich richtig is. Aber es hat nich solln sein. Wech, in det Absetzbecken! Det Kleid kam nach oben, hab ich abjefischt. Ansonsten …«, er winkte ab, »wissense, die Pumpen, die haben ’ne Jewalt! Jeht alles zerkleinert in die Faultürme und von da jeklärt in den Vorfluter. Da is nu ’n bisschen wat drin von ihr, im Vorfluter, wo se immer reinjepinkelt hat. Ich sare ja, det Leben is ’n Kreislauf. Ihr Kleid, ja, det habe ich. Ein schönet Stück. Kriegt allet det Museum für Kunst und Jewerbe. Wenn ich ma nich mehr bin.« Er senkte den Kopf und nahm die Schildmütze ab, wie zu einer stillen Andacht.
Im Auto, wieder auf dem Spandauer Damm, versuchte ich krampfhaft, an Weihnachten zu denken. Bach, Weihnachtsoratorium, Gänsebraten. Halt, nein, der wanderte doch später …
»Was machen wir nun?«, fragte Günter.
Ich sagte nichts.
Tanja Dückers
Der Gast
Der Luftstoß seiner plötzlichen
Bewegungen hat die Installation des
norwegischen Künstlers in Gang gesetzt.
Mein Bruder tritt mich unterm Tisch. Ich sehe seine bedeutungsvoll aufgerissenen Augen. Dann grinst er harmlos in Richtung Tür und murmelt mit lebkuchenvollem Mund »Frohes Fest«.
»Schön, dass Sie da sind« meine Mutter schüttelt dem Fremden die Hand, wobei sie, wie mir scheint, etwas übertrieben erfreut wirkt. Sie macht eine etwas unsichere, ausladende Geste hin zu unserem riesigen Berliner Zimmer mit Erker: »Das ist äh … so unser Wohnzimmer. Nichts Besonderes. Machen Sie es sich doch gemütlich! Was trinken Sie denn?«
Der Mann mit dem zerschlissenen Cord-Anzug, dem langen grauweißen Haar, das mich irgendwie aufgrund seiner merkwürdigen Geschecktheit an ein Hundefell erinnert, blickt sich staunend um. Meine Eltern sammeln Kunst: Überall stehen, liegen, hängen Gemälde, Figuren, Plastiken, Collagen, seltsame Installationen, Spielzeugmonster und so weiter. Eine riesige Metallkonstruktion, die beim leisesten Windstoß in Bewegung gerät und viele unterschiedliche Glöckchen, Rasseln, Pfeifen und Schellen zum Klingen bringt, bimmelt über uns und lässt unseren diesjährigen Gast erschrocken an die Decke blicken.
»Das ist nur ein Kunstwerk … Von einem norwegischen Environment-Artisten«, sagt meine Mutter so selbstverständlich, wie eine andere Mutter auf einen Wellensittich oder ein schlafendes Kleinkind hingewiesen hätte. Es gelingt ihr trotz aller Bemühungen nie im Entferntesten, volksnah zu wirken.
»Nur ein … Klettergerüst … Von einem wegischen … Autist …«, murmelt der Alte in sich hinein, und ich kriege sofort einen heftigen Tritt versetzt. Falk rollt mit den Augen.
»Wo leben denn die Wegen?«, fragt Falk jetzt den Landstreicher, den meine Mutter via Weihnachten für Obdachlose, eine Einrichtung, die von der Tochter einer befreundeten Kunstsammlerin ins Leben gerufen worden war, eingeladen hat.
»Wegen?« Der alte Mann hebt seine ebenfalls eigentümlich grauweiß gescheckten Augenbrauen und starrt Falk verdutzt an, als hätte der sich das ausgedacht.
»Egal.« Falk beißt in einen Zimtstern und meine Mutter seufzt erleichtert, denn meinem Bruder macht es oft Spaß, die gut gemeinten Pläne unserer Eltern zu durchkreuzen und sich auf die ein oder andere Weise unmöglich aufzuführen.
Letztes Jahr war er mit einer schwer drogenabhängigen Frau wegen der kleinen Holzkrippe, die meine Eltern tatsächlich recht naturalistisch zwischen ihren ganzen Skulpturen und Trödelmarktgesims aufgebaut hatten, in Streit geraten. Erst ging es darum, ob es rassistisch sei, das Kind Jesu immer nur als blond gelockt und blauäugig darzustellen. Dann war man plötzlich beim Stern von Bethlehem und bei der Astrologie, und unsere Besucherin entpuppte sich als inbrünstige Sternendeuterin. Mein zynischer Bruder ließ kein gutes Haar an ihren Ausführungen und ärgerte sie, indem er ihr das Sternzeichen ‚Zicke‘ attestierte. Als der Streit kulminierte, stand sie auf, griff ihre Handtasche und rief: »Ich muss mal auf den Balkon, das dumme Gequatsche von diesem jungen Besserwisser ist ja nicht auszuhalten!« Als sie wiederkam, war schon bei ihren langsamen, schlurfenden Schritten klar, dass sie sich einen Schuss gesetzt hatte.
Nach diesem Heiligen Abend erklärte mein Vater, er würde nächstes Jahr auf den fremden Weihnachtsgast verzichten und lieber die monatlichen Überweisungen an Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen und die Berliner Kältehilfe für Obdachlose erhöhen. Meine Mutter noch zermürbt vom Vorabend und von Falks anschließenden hirnrissigen Rechtfertigungen stimmte sofort zu. Doch trotz erhöhter Spendenzahlungen wurde sie am 23. Dezember wieder schwach und wählte ritualhaft die Vorweihnachtstags-Nummer der Organisation der Tochter ihrer Bekannten, der Kunstsammlerin. Und so kam es, dass auch dieses Jahr wieder ein unbekannter Gast mit bei uns am Tisch sitzt.
»Franz mein Name«, murmelt der Landstreicher jetzt, und reicht erst Falk, dann mir die Hand.
»Karl-Heinz«, sagt Falk verblüffte Gesichter meiner Eltern. Meine Mutter schüttelt missbilligend den Kopf und tut sich etwas Salat auf. Sie ist Falks ewige Clownerie ziemlich leid.
»Jana«, sage ich wahrheitsgetreu.
»Ist ja ’ne Riesenhütte hier!«, unser Gast hat sich trotz diverser Gesten meiner Eltern in diese Richtung noch nicht auf seinen Stuhl gesetzt, sondern blickt sich immer wieder erstaunt in dem riesigen Parkett-Zimmer mit hohen Wänden und stuckverzierter Decke ganz zu schweigen von den vielen Kunstwerken und Trödelobjekten um. Meinen Eltern ist diese Art von Aufmerksamkeit sichtlich unangenehm.
»Das Essen ist wirklich nichts Besonderes, aber ich hoffe, es schmeckt Ihnen«, fällt meiner Mutter ein, um die sichtliche Bewunderung des Gastes für ihr Domizil zu übergehen. Falk und ich werfen uns wieder einen amüsierten, aber im Grunde sehr wohlmeinenden Blick zu. Sie sind eben so, wie sie sind: Unsere Eltern haben es bis heute nicht verwunden, dass sie mittlerweile zu den Gutverdienern gehören. Das passt nicht in ihr Lebensbild, der Erfolg ihres Architekturbüros und obendrein der Galerien hat sie überrumpelt, sie haben von früh bis spät ein schlechtes Gewissen deshalb, obwohl sie noch nicht einmal auf die Idee kämen, die Steuer zu hinterziehen oder ihrer Putzfrau kein dickes Weihnachtsgeschenk zu geben. Mit unserem prolligen Hauswart berlinert mein Vater sogar immer, um nicht abgehoben zu wirken.
»Nichts Besonderes? Was ist das denn?«, fragt der Mann und deutet auf das große Fleischstück in der Jugendstilterrine, daneben die Soße in einem wunderbaren Art-déco-Kännchen. Verschiedene Vorspeisen und Salate sowie Teller mit Lübecker Marzipan, Domino-Steinen und Zimtsternen zierten den Tisch.
»Ach …«, meine Mutter windet sich, streicht sich die Ärmel ihrer bunten, unlängst in Madrid erstandenen Seidenbluse glatt.
»Aldi-Fleisch, ewig alt, Aldi-Salat von gestern, Penny-Stollen und Kekse von vor der Wende«, kichert Falk in sich hinein. Nichts davon stimmt. Ich weiß, er will nur wieder einmal testen, wie viel Understatement unsere Eltern wirklich tolerieren.
»Falk! Das ist Hirsch aus dem KaDeWe, selbst gebackener Stollen von Großmutter, und die Kekse hat Frau Larsen du weißt schon, die uns den