des Gewebes am lebenden Menschen kann mit zunehmender Erfahrung die Genauigkeit oder das Stadium der Chronifizierung einer Läsion bestimmt werden. Die diese Palpationsbefunde beschreibende Terminologie kann auf der Evidenz der Natur dieser Gewebeänderungen basieren.
Das Forscherteam in Kirksville unter der Leitung von Korr, Wright und Denslow hat die mit dem umfangreichen osteopathischen Läsionskomplex in Zusammenhang stehenden Veränderungen im autonomen Nervensystem analysiert. Dabei wurden sämtliche Abweichungen an der Wirbelsäule untersucht, welche einen Nachweis über das Ausmaß der Reaktion auf die Läsion per se lieferten. Eine sorgfältige Studie dieser langwierigen Untersuchung (ca. 60 Veröffentlichungen) wird im Weiteren dazu beitragen, eine exakte Terminologie zu entwickeln.6
Bis heute wurde keine Forschungsarbeit über das Kraniale Konzept veröffentlicht, aber die Ergebnisse der gegenwärtig laufenden Untersuchungen werden dabei helfen, eine verlässliche und exakte Terminologie zu entwickeln. Zunächst wird bei diesen Untersuchungen die Bewegung der Schädelwand offensichtlich: die übereinstimmende mit der Atmung einhergehende pulsierende Bewegung fällt dabei sofort auf. Wird die Atmung aus irgendeinem Grund angehalten, persistiert beim Gesunden ein Bewegungszyklus von 12 Mal/min, der dokumentiert werden kann. Dadurch lässt sich mit Sicherheit behaupten, dass der Kraniale Rhythmische Impuls keine Einbildung ist. Seine Amplitude liegt im Mikrometer-Bereich. Demnach muss das zentrale Verstärkersystem innerhalb des Zentralen Nervensystems des Untersuchers entsprechend entwickelt sein, bevor eine Interpretation der palpatorischen Befunde möglich ist. Das erwähnte Forschungsprogramm steht erst am Anfang und es wird sicherlich noch einige Zeit dauern, bis eine befriedigend umfassende Datensammlung zur Verfügung steht, um die verschiedensten derartigen Hypothesen zu untermauern. Daher ist es wichtig, deutlich zwischen hypothetischer Interpretation, der jeweiligen Beobachtung und deren sachlicher Basis zu unterscheiden.
Diese kurze Erörterung der Interpretation und Kommunikation von Palpationsbefunden genügt, um einige der Schwierigkeiten aufzuzeigen, die bei der wissenschaftlichen Dokumentation und beim Unterricht der Palpation eine Rolle spielen.
Ein noch viel größeres Problem ist jedoch die Entwicklung des Palpierens selbst, durch welche der Untersucher jene Daten erhält, aus denen er seine Schlussfolgerung hinsichtlich des physiologischen Zustands des Patienten ziehen muss. Wir wenden uns deshalb zunächst den verschiedenen Phasen der allgemeinen Palpation zu und betrachten, was bei jeder einzelnen davon wahrgenommen werden kann:
1 Eine sehr leichte Berührung bzw. selbst dann, wenn die Hand sogar etwa einen halben Zentimeter über der Haut gehalten wird, liefert Informationen über die Oberflächentemperatur. Ein akutes Läsionsgebiet wird im Vergleich zur Haut anderer Regionen ungewöhnlich warm sein, eine Region mit einer bereits lang andauernden chronischen Läsion erscheint dagegen möglicherweise ungewöhnlich kalt.
2 Leichtes Berühren gibt weiterhin Aufschluss über die Hautfeuchtigkeit und die Aktivität der Schweiß oder Talg absondernden Drüsen der Haut.
3 Der Tonus, die Elastizität und der Turgor der Haut können mittels leichten Drucks wahrgenommen werden.
4 Ein geringfügig kräftigerer Druck stellt eine Kommunikation zwischen dem Untersucher und den oberflächlichen Muskeln her, um deren Tonus, Turgor und Stoffwechsellage zu bestimmen.
5 Ein tieferes Eindringen ermöglicht eine entsprechende Untersuchung der tieferen Muskelschichten.
6 Der Zustand der Faszienschichten sowie Gewebsverdichtungen können festgestellt werden.
7 Im Abdomen liefert eine ähnliche Palpation Informationen über den Zustand der inneren Organe.
8 Bei tieferem Eindringen – bestimmt, aber sanft – wird indirekter Kontakt mit dem Knochen hergestellt.
Mögliche Übungen zur Entwicklung der entsprechenden Sensitivität:
a) Palpieren Sie mit geschlossenen Augen sanft die Oberfläche eines Tisches und erfühlen sie die Position der Tischbeine. In diesen Regionen wird die Resilienz (elastische Rückverformung) geringer und der Widerstand größer sein.
b) Erfühlen Sie eine Münze unter einem Telefonbuch.
c) Erfühlen sie ein menschliches Haar, das unter mehreren Seiten eines Telefonbuchs verborgen liegt. Ein Anheben der glatten Seitenoberfläche wird festzustellen sein.
Bis hierhin hat die Untersuchung Informationen hinsichtlich des Gewebezustandes in Bezug zu seiner unmittelbaren Umgebung ergeben. Was aber ist mit seinem inneren Zustand, seiner Vitalität, seiner inneren Aktivität?
Am besten lässt sich das meiner Meinung nach am Beispiel eines Patienten beschreiben, dessen eines Bein aufgrund von Poliomyelitis nicht mehr so wuchs, wie das andere. Inzwischen ist eine Paralyse für das Bein nicht mehr notwendig. Legen Sie die Handinnenfläche sanft, aber bestimmt auf einen Muskelbereich an irgendeiner Stelle am Bein. Vergleichen Sie, indem Sie Ihre andere Hand auf die gleiche Stelle des unversehrten Beines legen. Worin unterscheiden sich die beiden? Das früher einmal gelähmte Bein fühlt sich „tot” an, leblos. Es tritt ein unheimliches Gefühl auf, als ob es nicht so richtig zu dem Rest des Organismus gehören würde. Warum vermittelt es Ihnen aber diesen Eindruck?
Die essenzielle Eigenschaft des Lebens ist Bewegung, egal ob es sich um eine Zelle oder das Universum handelt. Sobald der Tod in einem Gewebe, einem Organ oder einem Organismus Platz greift, kommt die ihm inhärente Bewegung langsam zum Stillstand.
Wird eine Hand auf eine gesunde Muskelpartie eines ruhenden Beines gelegt, kann man sich innerhalb weniger Sekunden auf die innere inhärente Bewegung „einstimmen”. Zwischen Untersucher und Untersuchtem wird dabei eine Art Beziehung oder fluidales Kontinuum hergestellt, welches uns im Übrigen ein vollkommen neues Forschungsgebiet eröffnetiii. Die Kontinuität von Flüssigkeiten im Körper ist beim Gesunden niemals unterbrochen – Intra- und Interzellulärflüssigkeit, Lymphe, Zerebrospinale Flüssigkeit – sie alle befinden sich in einem konstanten Zustand rhythmischer, fluktuierender Bewegung. Dies ist das Unterscheidungsmerkmal eines lebenden Gewebes: Die Vitalität des Gewebes kann anhand der Stärke besagter Bewegung eingeschätzt werden und man wird allen Stufen der Gewebevitalität begegnen. Bei dem früher einmal paralysierten Bein ist lediglich ein minimaler Fluss an Bewegung vergleichbar einem leichten Murmeln oder Rauschen feststellbar: Ein langjährig paralysiertes Bein zeigt keine erkennbare innere Bewegung.
Weiterhin ist es möglich, das Potenzial an möglicher Verbesserung einzuschätzen, indem eine Hand flach auf das Segment der Wirbelsäule gelegt wird, das hauptsächlich für die Innervation der Beinregion sorgt. Diese wird gleichzeitig von der anderen Hand untersucht. Halten Sie zunächst ein paar Minuten inne und konzentrieren Sie sich auf die Aktivität, die in Ihre Hände übertragen wird. Die spinale Hand wird zuerst etwas bemerken. Der Grad, mit dem die andere Hand wenige Minuten später eine rhythmisch integrierte Reaktion empfängt, ist das Maß der Vitalität dieses Gewebes. Sobald sich eine „Kommunikation” zwischen beiden Händen aufgebaut hat, kann man annehmen, dass tatsächlich noch eine Kommunikation für den inneren vitalen Flüssigkeitszyklus zwischen dem spinalen Segment und seinem peripheren Ausläufer möglich ist.
Bis dato wurde die zu untersuchende Physiologie besprochen, also die Möglichkeit der Beobachtung sowie einige Vorschläge hinsichtlich der Schlussfolgerungen, die man aus ihnen ziehen könnte. Nun muss aber noch erwähnt werden, wie das alles auszuführen ist. Über den Unterricht der Palpationstechnik gibt es bislang wenig Material in der Literatur. Daher hoffe ich, dass Sie die Gedanken, die hier vorgestellt werden, kritisch hinterfragen, nachprüfen, mit ihnen experimentieren und dann konstruktive Vorschläge zu ihrer Verbesserung anbieten.
Da zu diesem Thema keine Informationen in der osteopathischen Literatur zu finden waren, beziehe ich mich hier auf die Schriften eines Mannes, für den die Kunst der Berührung zu einer hoch spezialisierten und unverzichtbaren Qualität im Laufe seines beruflichen Werdeganges wurde. Dieser Mann, Tobias Matthay, kann als Vater der modernen Technik des Klavierspielens angesehen werden. Er hat ausführlich und detailliert über die Technik der Berührung, die Physiologie des Berührens und über den Berührungssinn geschrieben. Darüber hinaus hat er