Ulrike Müller

Das Mädchen im Schloss


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hören, die hohe Tür geschlossen. Vorsichtig drückte Amélie die Klinke herunter, öffnete, trat ein. Sie blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen, blinzelte, aus der Düsternis der Flure kommend, einen Moment in die Helle des Sonnenlichts, das den Raum freundlich durchflutete. Dann atmete sie tief ein, nahm all ihren Mut zusam men und durchquerte, die neue blaue Mappe für den Unterricht fest unter dem Arm, den Raum. Sie hörte den Nachhall ihrer eigenen Schritte auf dem Parkett, bis sie vor dem Instrument angekommen war, wo sie erst einmal abwartend stehen blieb.

      Vor der hellen Fensterfront zeichnete sich die hohe, sehr schlanke, um nicht zu sagen; hagere Gestalt eines jungen Mannes ab. Er trug einen einfachen schwarzen Anzug mit Stehkragen und ein schwarzes Käppchen auf dem Kopf, unter dem krauses, ein wenig dünnes, dunkelblondes Haar hervorschaute. Der Lehrer trug keine Perücke! Nun wandte er sich der Ankommenden zu. Er nahm ehrerbietig seine Kopfbedeckung ab, schritt dann auf Amélie zu und verneigte sich grüßend vor ihr, wobei sein Oberkörper in diesem kurzen Augenblick eine beträchtliche Wegstrecke von oben nach unten zurückzulegen hatte. Sie sah ein freundliches braunes Augenpaar, fühlte flüchtig einen Handkuss und vernahm dazu den üblichen gemurmelten Satz, den man nie ganz verstehen konnte – offenbar sah es das höfische Reglement auch für einen Musiklehrer so vor – und hörte die wohlgesetzten Worte zur Begrüßung: „Willkommen, verehrte Herzogin, gestatten Sie mir, dass ich mich Ihnen vorstelle. Mein Name ist Friedrich Gottlieb Fleischer, ich habe die Freude, das Amt des Hoforganisten• seiner Majestät, Ihres herzoglichen Vaters, zu bekleiden und bin nun mit der überaus ehrenvollen Aufgabe betraut worden, Sie, gnädige Herzogin, in die Grundzüge der Musik und des Instrumentalspiels einzuweisen. Wie ich von Ihrer gnädigen Mutter, der Herzogin, vernahm, zeigen Sie bereits ganz besondere Aufmerksamkeit für die Musik?“

      Er öffnete den Deckel des Clavichords•, eines rechteckigen Kastens aus rotbraun gemasertem, glänzend poliertem Holz. Nun klappte der Lehrer den Deckel aufrecht nach hinten, so dass Amélie zum ersten Mal aus nächster Nähe einen Blick in das Innere des Instrumentes werfen konnte. Es sah wunderschön aus, war eine kleine geheimnisvolle Welt für sich: Vorn lagen die Tasten mit ihren länglichen, rhythmisch angeordneten schwarzen und weißen Spielflächen. Dahinter befanden sich die über einem hellen hölzernen Untergrund dicht nebeneinander auf einen gebogenen Holzstock gespannten und auf diesem festgeschraubten Saiten. Was Amélie aber am allermeisten faszinierte, war das prachtvolle farbige Gemälde auf der Innenseite des hölzernen Deckels. Vor einem weißen Schloss, von dessen Türmen blaue und gelbe Fahnen flatterten, war eine Gruppe tanzender und musizierender Damen in leichten Gewändern zu sehen. Monsieur Fleischer ließ seiner neuen Schülerin ein paar Momente Zeit, das Kunstwerk zu bestaunen. Dann sagte er behutsam und in freundlichem Ton: „Wenn Sie nun auf dem Stuhl vor dem Instrument Platz nehmen wollen und versuchen, die Hände auf die Tasten zu legen? Ich werde dabei behilflich sein.“ Er rückte einen gepolsterten Stuhl zurecht, auf dem noch zwei zusätzliche Kissen lagen, half Amélie sich zu setzen und ihre Füße so auf einer Fußbank zu platzieren, dass sie aufrecht vor dem Instrument sitzen konnte und ihr Kleid dabei nicht allzu sehr gedrückt wurde. Das war gar nicht so einfach. Amélie drohte sofort vom Stuhl wieder herunter zu rutschen. Um das zu verhindern, stützte sie sich rasch vorn mit den Händen auf den Tasten ab und erzeugte dabei die ersten Clavichordklänge ihres Lebens. Ein wenig erschrocken nahm sie die Hände ebenso schnell wieder vom Instrument und suchte sich auf dem Stuhl nun eine Position, in der sie die Balance halten konnte.

      Die Töne hatten wunderlich ungeordnet geklungen und zugleich sanft und weich, ein wenig wie die Laute, die manchmal bei den Hoftänzen gespielt wurde. Ein Klang, der auf angenehme Weise ein bisschen traurig stimmte.

      „Ja, das ist ein Instrument mit einem außergewöhnlich schönen Klang“, sagte der Organist, als habe er ihre Gedanken erraten. „Der große Barthold Fritze hat es selbst gebaut, der berühmteste Clavierbaumeister in Braunschweig, aus dessen Werkstatt auch noch viele andere Tasteninstrumente stammen, die inzwischen in aller Welt erklingen. Sie werden Ihre Freude haben an der Musik, die dieses Instrument, das man Clavichord nennt, hervorbringt.“ Behutsam hatte er, während er sprach, ihre kleinen Hände erneut auf die Tasten gelegt. Jetzt bedeutete er ihr, mit einzelnen Fingern langsam nacheinander bestimmte Tasten herunterzudrücken, sie kurz liegen zu lassen und wieder zu lösen. Und auf einmal erkannte sie Teile einer Melodie. Die hatte sie vor einer Woche beim Ostergottesdienst in der Kirche mitgesungen! „Christ ist erstanden“, so hieß das Lied. Noch etwas zaghaft, aber immer freudiger wiederholte sie nun ohne Hilfe die eben angeschlagenen Töne in derselben Reihenfolge. Da war sie, die Melodie! Ihre Finger wollten ihr nicht gleich gehorchen. Die vorderen Gelenke schlenkerten noch herum und bogen sich manchmal durch, wenn sie eine Taste herunterdrückte. Aber die ersten beiden Teile des alten Liedes gelangen schließlich fehlerfrei, sogar im richtigen Rhythmus.

      „Sie können noch etwas kräftiger drücken, dann wird der Ton lauter“, wurde sie von Monsieur Fleischer ermuntert. „Das Clavichord ist zwar ein leises Instrument, gut geeignet für die Hausmusik, nicht für einen großen Konzertsaal, aber man kann mit der Stärke des Anschlags bestimmen, wie laut oder leise der Klang sein soll. Wenn ich Ihnen das einmal zeigen dürfte.“ Er hob Amélie samt Stuhl und Fußbank vorsichtig ein wenig zur Seite, zog für sich selbst einen zweiten Stuhl herbei, setzte sich und begann zu spielen. Erst nur mit der rechten Hand, die ganze, schon geübte Melodie, einmal laut, einmal leise, einmal in einer Mischung aus beidem. Dann folgte ein ähnliches Osterlied, das Amélie ebenfalls kannte: „Christ lag in Todesbanden“. Diesmal spielte ihr Lehrer mit der rechten Hand die Melodie und mit der linken eine einfache Begleitung, eine Art zweiter Melodie dazu. Und dann wurde nach und nach ein Musikstück mit immer reicheren Klängen daraus, aus dem zwischendurch, mal langsam, mal schnell und in unterschiedlichen Tonhöhen, immer wieder die Melodie herauszuhören war. Und er erläuterte: „Das war ein Stück des berühmten Johann Sebastian Bach, der Musiker an der Thomaskirche in Leipzig war. Beim nächsten Mal wollen wir einen höfischen Tanz, eine Gavotte•, miteinander ausprobieren, die stammt von einem Franzosen namens Jean Philippe Rameau. Und dazu werde ich dann noch etwas Besonderes mitbringen: Noten. So heißt nämlich die Schrift, nach der Sie lernen können, Musik selbstständig zu lesen, zu spielen und aufzuschreiben und dabei ihre Gesetze zu verstehen. Ich muss nun die Chorprobe in der Schlosskirche leiten und darf mich für heute von Ihnen verabschieden. Aber vorher möchte ich Sie bitten, mir noch einmal Ihr neues Lied vorzuspielen.“

      „Ja, gern“, antwortete Amélie gar nicht so schüchtern wie sonst. Das war das Erste und Einzige, was sie, außer der Begrüßung, zu ihrem Musiklehrer sagte. Im Laufe des weiteren Musikunterrichts bei Monsieur Fleischer würde sie es noch so oft und so freudig sagen wie in keinem anderen Fach.

      Nachdem ihr Lehrer gegangen war, saß sie noch lange vor dem Instrument und probierte vorsichtig, aber beharrlich, das gesamte Lied darauf zu spielen, langsam, aber flüssig, mal lauter und mal leiser. Sie tauchte dabei so tief in diese neue Welt ein, dass sie fast zu spät zum Tanzunterricht gekommen wäre. Der sollte um zwei Uhr mittags im großen Redoutensaal• beginnen. Gerade noch rechtzeitig war Caroline mit zwei weiteren jungen Mädchen, Töchtern von Hofdamen, zu ihr geschickt worden, um sie abzuholen – normalerweise kein Grund zur Freude. Doch nach der ersten Musikstunde ihres Lebens war Amélie von einem nicht gekannten Glücksgefühl erfüllt, sodass weder die Sticheleien ihrer Schwester noch das alberne Gekicher der drei Mädchen ihr etwas anhaben konnten. Denn es gab etwas viel Wichtigeres: Sie musste unbedingt, unbedingt! bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit mit Amalunde sprechen. Natürlich über Musik.

       In welchem Amélie erfährt, dass Menschen und andere Lebewesen seit Urzeiten auch außerhalb von Kirchen getauft worden sind

      Viel Zeit war inzwischen vergangen. Amélie war zwei Jahre älter geworden, ein kleines Stück gewachsen und hatte sehr viel dazugelernt. Oft war sie zwischendurch heimlich an die Oker geschlüpft, um Amalunde zu treffen, das brauchte sie bei den vielen Erlebnissen, den bösen und weniger bösen, den aufregenden und traurigen. Amalunde war ihre beste Freundin, mit der sie über alles sprechen konnte. Ihr vertraute sie auch an, was sie bedrückte, wie zum Beispiel der gemeinsame Unterricht mit Caroline. Immer wusste die Schwester alles und sie – so wenig. Und