Heinz-Joachim Simon

Der große Aschinger


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kann doch nicht sein …«, stammelte Sebastian.

      Alfred Lorenz war in den Fünfzigern gewesen, und nie hatte man ihn krank erlebt. Selbst wenn er zu viel getrunken hatte, war er aufgestanden und aufs Feld gegangen und hatte so unerschütterlich gewirkt wie ein Gebirge. Und nun war dieser Fels so sang- und klanglos aus seinem Leben verschwunden?

      Sebastian empfand keine Trauer, nicht einmal Bedauern oder gar Mitleid. Sein Vater und er waren sich immer fremd geblieben, und er konnte sich nicht erinnern, dass der Vater ihn als Kind in den Arm genommen oder gar geherzt hatte. In letzter Zeit hatten ihre Auseinandersetzungen an Intensität zugenommen, weil er, Sebastian, nicht in den Staatsdienst eintreten wollte, was Alfred Lorenz für die einzige ehrbare Alternative hielt, wenn man kein Bauer sein wollte. Doch Sebastian verspürte keine Lust dazu, verstaubte Akten zu wälzen, Ärmelschoner zu tragen und vor Menschen zu katzbuckeln, die Arcole nicht kannten und Balzac für eine französische Cognacmarke hielten. Oft hatten sie darüber gestritten, dass er nicht wie sein Bruder Wilfried in die SA eintreten wollte und es schon abgelehnt hatte, der Hitlerjugend beizutreten, wo Wilfried bereits als Scharführer zu einiger Anerkennung gekommen war. Sebastian mochte diesen Hitler nicht, sein Geschrei nicht, seinen Hass nicht und auch nicht seine pöbelnden Garden. Er mochte nicht die kackbraunen Hemden, die Dummheit und Grobheit der SA, ihr trunkenes Gegröle und ihre Vulgarität. Er hasste ihr Nibelungengeschrei und das Gefasel von der Auserwähltheit der Arier. Sicher hatte auch das wilde Gerede seines Vaters daran Anteil, dass er sie verabscheute. Für Deutschtümelei hatte er zu viel gelesen. Die einzigen Fächer, in denen er gute Zensuren hatte, waren Deutsch und Geschichte, er hatte Seneca und Cicero gelesen und hatte sogar über Heraklit, Platon und Aristoteles einige Kenntnisse. Vor allem aber liebte er die Franzosen und träumte davon, in Paris zu leben, über die Rue Saint-Honoré zu schlendern und mit Danton und Camille Desmoulins im Le Grand Véfour zu speisen. Er gab dem Vater recht, dass er aus der Art geschlagen war und niemand in Schönberg die gleichen Leidenschaften wie er hatte. Er war nicht wie sein Vater oder sein Bruder und wollte es auch nicht sein. Und nun war der Alp seiner Kindheit tot. Doch was würde nun werden? Aus Andeutungen des Vaters wusste er, dass sie hoch verschuldet waren. Sebastian ahnte, dass die veränderten Umstände auch seinen Lebensweg verändern würden.

      Wilhelm schnalzte mit der Zunge, und die beiden Schimmel fielen in einen munteren Trab. Sie fuhren über die Brücke aus Lindow heraus und nahmen die lange Lindenallee nach Schönberg. Der Bauernhof der Lorenz’ lag am Ende des Ortes. Neben der riesigen Scheune und den Viehställen nahm sich das Wohnhaus fast wie eine Puppenstube aus. Es war mit Efeu bewachsen und machte zur Straße hin nicht viel her. Das Wertvolle an dem Hof waren die große Scheune, die imposanten Stallungen aus rotem Backstein und der Acker dahinter, der bis zum Horizont, bis zum Wald nach Herzberg reichte. Es war gutes Land, sofern man in Brandenburg – in des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse, wie es im Reich hieß – überhaupt von gutem Ackerland sprechen konnte. Ohne die Leidenschaft des Vaters für die Pferde hätten die Lorenz’ ein sicheres Auskommen gehabt.

      Als sie in den Hof fuhren, sah Sebastian bereits das halbe Dorf versammelt. Mit betroffenen Gesichtern standen sie ratlos und verloren wirkend vor dem Haus und steckten die Köpfe zusammen. Alle fragten sich, was nun aus dem Dorf werden sollte, denn der alte Lorenz hatte ihm Richtung und Haltung gegeben und war ein geachteter Mann gewesen, der für sie in der Kreisverwaltung so manches erreicht hatte.

      An der Tür nahm ihn Lehrer Thyssen in Empfang, der mit dem Vater und dem Nachbarn Garchke und zuletzt auch mit Wilfried jeden Samstagabend einen gepflegten Skat gespielt hatte. Er war Sebastians Lehrer bis zur vierten Klasse gewesen und hatte ihn so manches Mal getröstet, wenn er vom Vater drangsaliert worden war. Sebastian liebte den kahlköpfigen Mann mit der Uhrkette vor dem mächtigen Bauch und der roten, skrofulösen Nase, die von blauen Äderchen durchzogen war. Von ihm hatte er Dumas’ Der Graf von Monte Christo und Die drei Musketiere bekommen, die ihm eine neue Welt erschlossen und ihn in seinen Tagträumen bestärkt hatten.

      »Mein Junge, du musst tapfer sein«, sagte Lehrer Thyssen und drückte ihn behutsam an sich.

      Die Ermahnung war nicht nötig, denn es gab für Sebastian keinen Grund zu verzagen. Aber er konnte ja nicht sagen, dass ihm der Tod des Alps gleichgültig war, mehr noch, wie eine Befreiung vorkam. Pflichtschuldig machte er ein trauriges Gesicht und ging in die Wohnstube, wo er seinen Vater auf dem Sofa liegen sah. Ein starkes, fleischiges Gesicht mit einer schiefen Nase und einem mächtigen Kiefer. Seine Augen waren geschlossen. Und doch ging für Sebastian nichts Beruhigendes von ihm aus, sondern er wirkte auf ihn wie eine Drohung, als habe er vor, wieder aufzustehen und seine Befehle zu brüllen.

      Die Mutter saß auf einem Stuhl neben dem Sofa. Ihre Augen waren tränenlos und leer, sie hob hilflos die Arme und ließ sie wieder sinken. »Komm, nimm Abschied von deinem Vater!«, sagte sie.

      Hinter ihr stand Wilfried. Auch er ohne Tränen, die Hände in die Hüften gestützt, als könne er es nicht abwarten, endlich die Herrschaft über Familie und Hof übernehmen zu können. Weil es Anstand und Sitte verlangten, trat Sebastian an das Sofa und senkte den Kopf. Er empfand keine Liebe zu dieser leblosen Hülle, dafür hatte er ihn noch am Morgen gehasst, genauso wie an den vorangegangenen Tagen und solange er denken konnte. Er war von seinem Fleisch, aber nicht von seinem Geist, und was in ihm steckte, war aus der Linie der Mutter, deren Bruder sich in Frankfurt an der Oder einen Namen als Architekt gemacht hatte und deren Cousin sich in Berlin als Kapellmeister durchschlug und sogar ein Engagement im Wintergarten gehabt hatte. Nutzloses Geschmeiß, Judenschwengel, wie der Vater ihre Sippe nannte, Tagediebe und Bankerte aus dem Sächsischen. Ihnen schrieb er zu, dass ihm der jüngste Sohn so fremd war.

      Zwei Tage mussten sie mit dem Toten aushalten. Die Verwandtschaft kam, die Brüder des Vaters, die ihn auch nicht gemocht hatten, die Brüder und Cousins der Mutter, die den Alfred Lorenz zeit seines Lebens verachtet hatten, weil er die Schwester oder Cousine ein Leben führen ließ, das nur von Vorhaltungen und Kälte geprägt war.

      Sie sahen sie nun von ihrer Not befreit. Nein, trotz der dunklen Kleidung und den ernsten Gesichtern trauerte von der Verwandtschaft niemand, nur die Bauern von Schönberg wähnten, einen Führer verloren zu haben.

      Am dritten Tag trug ihn die SA aus dem Haus. Der Pfarrer schritt voran, und die Gemeinde sang zu Alfred Lorenz’ Gedenken. Niemand aus dem Dorf fehlte. Aus Lindow und Neuruppin waren Amtspersonen gekommen, auch sie mit ernsten Gesichtern, und der Gauleiter von Berlin hatte seinen Stellvertreter geschickt. Die Beerdigung des alten Lorenz brachte eine Vielzahl von Leuten zusammen, die sich nie wiedertreffen würden. So trugen sie ihn denn zum Friedhof neben der Kirche, und der Pfarrer tat so, als sei er sehr bewegt. Von den Frauen wurden Taschentücher an die Augen gedrückt, und die Bauern schnäuzten sich.

      Brandenburgische Erde fiel auf den Sarg, nachdem der Leichnam mit Seilen hinabgelassen worden war, und der Pfarrer wiederholte vor der Grube noch einmal, was er bereits in der Kirche gesagt hatte, sprach von dem rechtschaffenen und erfüllten Leben des Alfred Lorenz, seiner Sorge um das Wohlergehen des Dorfes, von seiner Liebe zum deutschen Vaterland und seinem Umhegen der Familie, von seiner Hilfsbereitschaft und seinem starken Willen. Vieles war übertrieben, manches gelogen, und noch mehr wurde ausgelassen. Die Witwe jedoch weinte nicht. Mit glanzlosen Augen und dem schwarzen Kleid, das sie noch bleicher und älter wirken ließ, sah sie aus wie ein Schatten ihrer selbst. Was würde sie nun tun, wenn ihr niemand den Tag vergällte, wenn sie niemand anhielt, dies oder jenes zu tun, wenn dieser Alp, an dessen Seite sie sich verbraucht hatte, nun nicht mehr ihre Seele bedrückte? Er war fort und ließ nichts zurück als ein riesiges Loch in ihrer Seele.

      Die Glocken läuteten, und Sebastian dachte an den Moment auf dem Eis, als er sie läuten hörte und das Wasser in goldenen und violetten Funken von seinen Füßen hochsprang. Nach der Grablegung ging es in den Eichkrug zum Totenschmaus, und die Tafel war mit belegten Broten reichlich gedeckt. Es gab Kuchen und Kaffee, Bier und Schnaps, und bald waren viele angetrunken.

      Sebastian suchte die Gesellschaft der Rosensteins, die der Vater als Abkömmlinge von Juden beschimpft hatte, was sie vielleicht in fernen Zeiten auch gewesen sein mochten, die aber längst so christlich lebten wie der alte Lorenz. Der Cousin der Mutter, ein Musiker, nahm ihn beiseite.

      »Was willst