einen Überblick, wie es in Berlin zugeht. Bis heute Abend habe ich vielleicht auch den Vermieter erreicht.«
»Kann ich das Buch mitnehmen? Falls mir langweilig wird, habe ich etwas zum Lesen.«
»Langweilig? In Berlin? In dieser Stadt ist niemandem langweilig! Berlin ist aufregender als jede andere Stadt in Europa. Aber nimm ruhig Stendhal mit. In meinem Alter liest man nicht mehr Die Kartause von Parma , das ist ein Buch für junge Leute. Du kannst es behalten.«
Mit dem Buch unter dem Arm ging er über den Kurfürstendamm. Er nahm an der Kaiser-Wilhelm-Kirche die U-Bahn zu den Linden und stand fasziniert vor dem Hotel Adlon und dem Brandenburger Tor. Noch nie hatte er so viel Harmonie und Schönheit gesehen wie rund um den Pariser Platz. Er ging die Straße Unter den Linden hinunter, an der Neuen Wache, der Oper und dem Zeughaus vorbei über die Brücke zum Schloss und betrachtete mit Ehrfurcht diese Wohnstatt des ehemaligen Kaisers. Am Alexanderplatz mit dem Denkmal der Berolina und dem Grandhotel ging er, noch beeindruckt von dem gestrigen Besuch, in Aschingers Bierquelle und kaufte dort ein Fischbrötchen, trank dazu ein Bier und zahlte dafür nicht mehr als drei Reichsmark.
Während er aß, nahm er sich den Stendhal vor und las begeistert über eine Epoche, in der das Oberste zuunterst gekehrt worden war, und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dies auch in Deutschland passieren würde.
Auch diese Bierquelle war gut besucht. Aber Sebastian ließ sich beim Lesen nicht stören. Auf einmal wurde es still, und er sah auf.
Das Personal machte ernste und beflissene Gesichter. Die Bewegungen wurden noch schneller, ihre Bücklinge beim Bedienen noch tiefer. Der Grund für den gesteigerten Arbeitseifer war ein mittelgroßer Mann im dunklen Anzug, mit weichen Gesichtszügen, leichten Hängebacken und großen, sanften Augen hinter der Nickelbrille. Aufmerksam studierte er die Preise und ging dann hinter die Theke mit den Biersäulen, wischte mit der Hand über den blitzenden Chrom und nickte zufrieden. Dann ging er zur Kaltmamsell, nahm sich ein belegtes Brötchen, klappte es auf und nickte wieder.
»Das ist Aschinger!«, hörte Sebastian am Nebentisch flüstern. Dieser untersetzte Mann mit dem nichtssagenden Gesicht eines Buchhalters war also der Inhaber der vielen Bierquellen, ein Napoleon der Gastronomie. Er hatte schon viel von ihm gehört, gelesen, dass ihm die besten Gastwirtschaften, Restaurants und Hotels in Berlin gehörten. Nichts Großartiges ging von ihm aus. Und doch war es still geworden, man beobachtete ihn verstohlen, als wäre er der Kaiser höchstpersönlich. Ein hochgewachsener Mann im dunklen Anzug folgte ihm dienstbeflissen und mit ängstlichen Augen. Die Miene verriet seine Anspannung. Er schien kaum zu atmen. Offensichtlich der Geschäftsführer.
Aschinger kam nun an den Tischen vorbei und wies stumm auf den Abdruck eines Bierglases. »Jeder Gast muss einen sauberen Tisch vorfinden. Sauberkeit und Hygiene sind die Voraussetzungen, dass sich ein Gast wohl fühlt. Qualität des Essens, Qualität der Bedienung, Qualität der Umgebung sind der Kern der Aschinger-Idee. Deswegen haben wir Spiegel und Kronleuchter wie in einem Schloss«, dozierte Aschinger.
»Selbstverständlich, Qualität ist unsere Idee«, beeilte sich der Geschäftsführer zu flüstern und winkte einem der Bierzapfer zu, der mit einem Handtuch herbeieilte und den Abdruck des Bierglases wegwischte.
»Und natürlich Schnelligkeit«, fuhr Aschinger fort. »Der Gast muss seine kurze Arbeitspause für ein gutes Essen zu vernünftigen Preisen nutzen können.« Aschinger kam an Sebastian vorbei, stutzte, gesellte sich zu ihm und hob das Buch an. »Darf ich? Stendhal? Schön, es liest noch jemand Stendhal in der Mittagspause! Sie sind sicherlich Student.«
»Nein, ich suche Arbeit.«
»Was haben Sie gelernt?«
»Nichts«, gestand er achselzuckend. »Ich bin vom Land.«
»Aber er liest Stendhal, sieh mal einer an! Was lesen Sie sonst noch, junger Mann?«
»Balzac, Dickens, Flaubert und Zola. Aber auch Thomas Mann und Feuchtwanger.«
»Und warum lesen Sie das?«
»Einfach so, ich liebe eben Bücher.«
»Da schau an! Und Sie suchen Arbeit?«
»Ja, ich bin erst gestern nach Berlin gekommen.«
»Ein junger Mann, der in die Stadt Berlin kommt, um sein Glück zu machen. An was erinnert mich das?« Aschinger sah Sebastian fragend an.
»An … an Rastignac?«, stotterte er.
»Jawohl, an den großen Balzac.« Aschinger schürzte nachdenklich die Lippen und wandte sich an den Geschäftsführer. »Brauchen Sie hier nicht noch jemanden? Ich habe so etwas in Erinnerung.«
»Ganz recht, an den Zapfsäulen fehlt uns noch jemand.«
»Na also! Junger Mann, wollen Sie bei Aschinger anfangen? Wollen Sie unseren Gästen dazu verhelfen, sich bei uns wohl zu fühlen?«
»Gern!«, erwiderte Sebastian mit Herzklopfen und wusste über diese überraschende Wende erst einmal nichts weiter zu sagen.
»Bringen Sie dem jungen Mann bei, wie man mit einem Bierhahn umgeht und ein ordentliches Bier einschenkt!«, wandte sich Aschinger wieder an seinen Geschäftsführer und schmunzelte dabei.
»Haben Sie schon einmal in der Gastronomie gearbeitet?«, fragte der Geschäftsführer nach einem vorsichtigen Blick auf seinen Chef.
»Nein«, erwiderte Sebastian ehrlich und fühlte schon seine Chance schwinden.
»Das macht doch nichts!«, fuhr Aschinger dazwischen. »Ich erwähnte doch eben, dass Sie ihn anlernen sollen. Meine Nase sagt mir, dass der Junge etwas taugt.«
Das joviale Gesicht wirkte nun kalt und streng. Ein König vertrug keine Widerrede. Der Geschäftsführer beeilte sich zu versichern, dass er froh sei, so schnell jemanden für seine Arbeit an der Zapfsäule bekommen zu haben, und der junge Mann auch auf ihn einen guten Eindruck mache.
Aschinger nickte huldvoll. »Die üblichen Konditionen: Wir stellen ihn als Hilfskraft ein. Melden Sie es an die Zentrale! Wenn er sich anstellig zeigt, wird er als Angestellter in die Gefolgschaft übernommen.« Noch einmal ein Nicken und ein unwilliger Blick zu dem Tisch hin, der jetzt spiegelblank glänzte, dann ging Aschinger mit einem freundlichen Gruß an die Büfettmamsell aus der Bierquelle.
Der Geschäftsführer wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn und sagte unwillig: »Kommen Sie nach hinten, junger Mann!« Sebastian folgte ihm in ein kleines Büro.
»Da haben Sie mir ja was Schönes eingebrockt!«, brummte der Geschäftsführer und warf sich in den Sessel. »So setzen Sie sich doch!«, fügte er hinzu und wies ungeduldig auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Eigentlich brauche ich eine versierte Kraft, aber wenn der Chef es so will, dann wird es eben so. Wissen Sie eigentlich, was für ein Glück Sie haben? Schwidiwatzki noch einmal! Tausende reißen sich um eine Stelle bei Aschinger, und Sie kommen hier rein und lesen einen Schmöker – und schon haben Sie Arbeit! Na schön, Name, Geburtsdatum, Adresse.« Der Geschäftsführer, der sich nun als Paul Dornbusch vorstellte, nahm die Personalien auf. Als Sebastian den Kurfürstendamm angab, sah er erstaunt hoch. »Sie sind wohl doch etwas Besseres? Eigentlich sehen Sie nicht danach aus. Piekfeine Gegend, der Kurfürstendamm. Herr Fritz Aschinger wohnt auch dort.«
»Ich wohne derzeit bei meinem Onkel, Ecke Bleibtreustraße. Und was Besseres bin ich auch nicht.«
»Und das mit dem Schmöker, war das ein Trick?«
»Nein, ich lese wirklich gern.«
»Nun, in Zukunft werden Sie dazu nicht mehr oft kommen. Sie sind morgen Punkt acht Uhr hier und bekommen eine Uniform gestellt, damit Sie manierlich aussehen. Der Dienst geht bis elf Uhr abends, jedenfalls solange Sie Hilfskraft sind. Wenn Sie in die Gefolgschaft übernommen werden, haben Sie um acht Uhr Feierabend. Das wär’s erst mal. Wie Sie sich zu benehmen haben, erkläre ich Ihnen morgen. Mensch, haben Sie einen Dusel!«
Ganz benommen trat Sebastian Lorenz aus der Bierquelle. Erst als er draußen war, fiel ihm ein, dass er noch nicht einmal gefragt hatte, wie